Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
Hayter bellte ihre Befehle wie ein Militärkommandant, bis die zwei schließlich getrennt waren.
Als schließlich alle wieder am Tisch saßen, betupfte Jane einen langen Kratzer auf ihrer Wange, und Agnes zog ihr Unterkleid zurecht. Miss Hayter räusperte sich nachdrücklich. »Holen Sie Ihre Nähsachen heraus«, wies sie an, als sei nichts vorgefallen. »Hat irgendjemand noch mal über das Mittelstück nachgedacht?«
Damit war die Sache für Rhia beschlossen. Sie zog den Chintz aus ihrer Tasche und breitete ihn auf dem Tisch aus.
Miss Hayter sah verdutzt drein. »Das ist ein sehr schönes Stück, Mahoney. War das in Ihrem Sack?«
»Nein, es gehört mir.«
Jane beugte sich über den Chintz und fuhr mit dem Finger den Flügel eines Vogels nach. »Das ist aber wirklich schön«, flüsterte sie. »Hab selten so ein gleichmäßiges Gewebe gesehen.«
»Ihnen, Mahoney?« Miss Hayter runzelte die Stirn. »Dann haben Sie es mitgebracht?«
Rhia nickte. »Es ist mein eigener Entwurf.«
Agnes schnaubte abfällig. »Lüg nicht, Mahoney!«
»Das is richtig gute Qualität, das«, murmelte Nelly.
Miss Hayters Tonfall war streng. »Agnes, haben Sie nicht gewusst, dass Mahoney im Stoffgewerbe gearbeitet und neue Druckmotive entworfen hat?« Sie wandte sich an Rhia. »War das ein Entwurf für das Haus Montgomery?«
»Nein. Das war dort nicht wirklich meine Aufgabe … ich hatte es mir nur erhofft. Es ist ein Bild von … es stammt aus den Geschichten, die meine Großmutter mir früher erzählt hat …« Sie verstummte, da die aufwallenden Gefühle sie verwirrten. Sie durfte auf keinen Fall weinen.
Ehrfürchtiges Schweigen folgte, während sich die Frauen um den Stoff scharten. Rhia fing Margarets Blick auf – sie grinste wie eine stolze Mutter. Alle beugten sich nun über den Chintz und untersuchten jeden Zentimeter. »Diese Vögel sind aber hübsch«, gurrte Nelly. »So welche hab ich mal im Covent Garden gesehen, in einem Drahtkäfig.« Alle waren sich einig, dass es sich um eine erstklassige Arbeit handelte und Rhia ausgesprochen begabt war.
»Der Chintz ist perfekt für die Applikation, Mahoney, absolut perfekt .« Miss Hayter schüttelte den Kopf. »Es ist aber eine Schande, ihn zu zerschneiden. Sind Sie sich sicher …?«
Rhia nickte. »Es macht mir nichts aus. Ich will ihn nicht mehr.« Sie hätte nie damit gerechnet, mal das Gefühl zu haben, zu diesen Frauen zu gehören. Ihr war es nicht einmal bewusst gewesen, dass sie es wollte.
Jeder Matrose, der auf dem Achterdeck vorbeiging, wurde auf Anzeichen von Schurkerei inspiziert, abgesehen von den üblichen Attributen. Man war der Meinung, dass der Mörder gefährlich aussehen und sich auch verdächtig verhalten würde, doch es herrschte beständig Uneinigkeit darüber, wie genau sich diese Eigenschaften wohl äußern mochten. Agnes’ aktueller Favorit war ein Spanier mit schielendem Auge und einem hinkenden Gang. »Das muss ein Verrückter sein«, raunte sie.
»Nicht alle Mörder sind Verrückte«, gab Sarah zu bedenken. »Nelly ist es nicht. Und mein Harry auch nicht, als er dem Mieteintreiber eins mit der Schaufel übergezogen hat.«
»Aber nur ein Verrückter würde ohne Grund töten«, erklärte Agnes mit Bestimmtheit.
»Ich dachte, du hast gesagt, der Mörder hat einen Sack voll Silber gestohlen«, fuhr Nora sie an.
»Hab ich nicht. Das hat Jane gesagt.«
»Das hab ich nie gesagt«, gab Jane zurück.
»Aber«, fuhr Agnes fort, »wenn da tatsächlich ein Beutel voll Silber herumlag, weil der Mann, dem er gehörte, ein Messer im Hals hatte, dann hätte ich’s auch mitgenommen, und du genauso.«
Nora warf angewidert ihre Näharbeit hin. »Jetzt sei doch nicht so dumm, Agnes. Er ist doch nicht in die Kajüte von dem Mann eingedrungen, hat ihn umgebracht und dann das Silber gesehen. Das ergibt keinen Sinn.«
Rhia stach sich mit der Nadel in den Finger und biss sich auf die Lippe, um nicht aufzuschreien. Margaret warf ihr einen Blick zu. Wenn Laurence’ Mörder tatsächlich auf dem Schiff war, und wenn derjenige das Porträt so unbedingt haben wollte, dass er dafür jemanden umbrachte, könnte er dann nicht auch hinter ihr her sein? Vielleicht war er das tatsächlich. Momentan erschien der Koch der naheliegendste Schuldige zu sein – vielleicht war er ein Auftragsmörder? Es war schwer, sich vorzustellen, welche persönlichen Motive er haben mochte. Geld?
Der Disput ging den ganzen Morgen weiter, während sie so sorgfältig nähten, als flickten sie
Weitere Kostenlose Bücher