Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
nahesteht. Ich frage mich, ob sie wohl sein Bett teilt.
Nelly geht allen auf die Nerven, weil sie so weinerlich ist und der Gestank und die Hitze sie krank machen. Ich habe keine Ahnung, im wievielten Monat sie jetzt ist, aber ihr Bauch geht auf wie Hefeteig.
Heute Morgen, als Georgina Jane gerade eine Ohrfeige verpassen wollte, hörten wir oben jemanden rufen, und dann die süßen Worte: Land in Sicht .
Miss Hayter kam mit den anderen Aufseherinnen zu uns herunter. Unsere kleine Oberin hatte vor Aufregung ganz rote Wangen, als sie verkündete, wir befänden uns an der Hafenmündung von Rio de Janeiro. Nora schnaubte auf ihre typische Art und sagte: »Was’n das für’n Name für ein Land?«, aber es war klar, dass sie genauso froh war wie alle anderen. Miss Hayter musste die Stimme erheben, damit man sie über all den Freudenrufen überhaupt hören konnte, und als wir erfuhren, dass wir nach oben durften, gab es fast ein Gerangel um die Leiter.
Nach zwei Tagen in Dunkelheit war das Licht an Deck schmerzhaft grell und die Luft frisch wie ein Elixier. Wir drängten uns alle an die Reling des Achterdecks. Auf den ersten Blick schienen die Gebäude und Bäume in der Ferne, sowie die Masten fremder Schiffe so perfekt, dass es sich dabei um ein Gemälde hätte handeln können. Eine Landformation am Ufer wirkt wie ein Wachtier am Eingang zu einem reichen Land. Jetzt verstehe ich, weshalb die Seeleute des Mittelalters geglaubt haben, Brasilien sei Manannans Verlorenes Land. Andererseits sind sie auch nie bis Australien gekommen. Nach einem Monat auf See habe ich die Gerüche des Landes fast vergessen. Ich spüre immer noch die Veränderungen in der Luft. Es gleicht einer Parfümerie: Zitrusduft gemischt mit einem leichten Geruch nach Holz und honigsüßen Blüten, die ich nicht kenne.
Die Aufregung darüber, in einem geschäftigen Hafen angelegt zu haben, täuscht jedoch nicht über die Tatsache hinweg, dass die Stimmung innerhalb der Besatzung sich verändert hat – jedenfalls bei den wenigen, die noch auf dem Schiff sind. Mir sind zwei unbekannte Männer mit dunkler Haut aufgefallen. Sie sind muskulös und nicht dazu gebaut, Masten hinaufzuklettern, und ich bezweifle auch, dass es sich um Matrosen handelt. Vermutlich sind sie angemietete Wachmänner aus Rio. Ich habe keine Ahnung, wie die Offiziere des Schiffes und Mr Wardell mit Laurence’ Tod umgehen. Albert habe ich auch noch nicht gesehen. Er muss an Land sein.
Es erscheint unfair, dass die Welt der Freiheit so atemberaubend schön ist, wenn wir in diesem schwimmenden Zuchthaus festsitzen. So nennt Margaret das Schiff. Die Schildkröten sind wie kleine Inseln, die sich schläfrig im grünen Wasser treiben lassen und sich selbst an den tummelnden Delphinen nicht zu stören scheinen. Die Delphine wirken ausgesprochen zufrieden mit sich und ihren Kunststücken, aber mehr als alles andere wecken sie in mir die Sehnsucht nach der Freiheit.
Also habe ich jetzt die Küste von Brasilien gesehen, jedoch nicht auf die Weise, wie ich mir einst ausgemalt hatte, ein exotisches Land zu bereisen. An den Ufern des Meeresarmes befinden sich Halbmonde hellen Sands, die sich an eine fransige Küste schmiegen. Kirchtürme und hübsche weiße Häuser erinnern an Bequemlichkeit und Sicherheit. Dunkeläugige Kinder in bemalten Ruderbooten schippern um uns herum und werden immer wieder vom Maat gewarnt, nicht an Bord zu klettern, um ihre Bananen und Zitronen zu verkaufen. Über die Wasseroberfläche dringen Klänge herüber: das melodische Läuten von Kirchenglocken, das Lachen von Kindern und irgendeine Art Singvogel.
Natürlich gibt es Vorschriften, solange wir im Hafen liegen. Jeder an Deck wird ständig überwacht, egal, ob man die Bettwäsche lüftet, näht oder die Wasserklosetts entleert. Man hat mir erklärt, dass Mr Reeve mich nicht mehr brauchen wird, bis wir wieder Segel setzen. Soweit ich weiß, ist keine der Frauen zu Laurence’ Tod befragt worden. Uns würde man doch sicher als Erste verdächtigen. Außerdem hat mich Mr Wardell in der Nacht des Mordes vor Laurence’ Kajüte gesehen. Bedeutet das, es gibt einen anderen Verdächtigen?
Miss Hayter kehrte heute Nachmittag mit einem neuen Strohhut und Hunderten von Metern hässlichem Baumwollstoff vom Markt in Rio zurück. Daraus sollen wir neue Kleider nähen. Beim Abendessen verkündete sie, dass jede von uns außerdem ein Stück Silber bekam. Alle Quilts waren verkauft worden. Das Geld wird allerdings für uns
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