Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
Michaels Stimme war wie immer völlig emotionslos. Wer ihn nicht kannte, hätte glauben können, dass es ihm egal war.
»Dann wissen Sie also Bescheid.« Antonia wirkte erleichtert.
Rhia fragte sich, welchen Stoff der heutige Tag wohl webte.
»Rhia und ich haben die Köpfe zusammengesteckt und ein paar Dinge in Erfahrung gebracht«, erwiderte Michael, »und ich schätze, Ihnen geht das ähnlich. Es klingt auch so, als wüsste Ihr Mr Dillon einiges. Aber warum warten wir nicht ab, bis wir alle beisammensitzen und tragen dann zusammen, was wir wissen. Momentan ist es so etwas wie ein Puzzle.«
»Eher ein Quilt«, sprach Rhia ihren Gedanken laut aus. Der heutige Tag war nicht nur ein Stoff allein. Bald mussten die einzelnen Stücke zusammengenäht werden.
»Der Quilt!«, rief Antonia. »Den hatte ich schon fast vergessen! Ich habe letzten Monat den Rajah -Quilt erhalten, und als ich die Applikation sah, da wusste ich sofort, dass der Chintz von dir stammte, Rhia. Er hat mich fast zu Tränen gerührt. Es tat mir so leid, dass dein wunderschöner Chintz zerschnitten wurde, aber, und das ist noch seltsamer, als ich ihn gesehen habe, wusste ich, dass es dir halbwegs gut geht … dass alles gut werden würde. Ich habe einen Brief von der Frau des Gouverneurs im Auftrag aller Näherinnen erhalten, in dem stand, dass es sich um ein Geschenk für die Quäker der British Ladies Society handelt.«
»Dann ist der Quilt hier, im Haus?« Es erschien kaum möglich, dass er den Ozean zweimal überquert hatte und vor Rhia nach London zurückgekehrt war.
»Ja, das ist er. Ich zeige ihn dir später.«
Das Gespräch wandte sich anderen Themen zu. Antonia fragte Michael nach seiner Familie. Nach Sydney fragte sie nicht, keinen von beiden, fiel Rhia auf. Eines Tages würde sie alles hören.
»Möchten Sie gerne ein Stück Ingwerkuchen zum Tee, Miss Mahoney?«, erkundigte sich Beth, als sie mal kurz zu Wort kam.
»Und ob! Der Gedanke an deinen Ingwerkuchen war das Einzige, was mich vor der Verzweiflung gerettet hat, Beth.«
63
W OLLTUCH
Rhia erwachte am Nachmittag in dem Bett mit den elfenbeinfarbenen Vorhängen und Blumenranken. Langsam schlüpfte sie in ein Kleid, das im Schrank hing, seit sie das letzte Mal in diesem Zimmer gewesen war. Es hatte die Farbe japanischer Rosen, ein kräftiges dunkles Rosa, jedoch ohne den harten Glanz der neuen mineralischen Färbungen. Der Stoff streichelte ihre Haut, aber sie fühlte sich dessen nicht unwürdig. Dann steckte sie ihre Haare hoch, so gut es mit einem Handspiegel ging, und schob die Füße in Pantoffeln, als kleide sie sich in den Gewändern einer anderen Person. Langsam ging sie die breiten, gewienerten Treppenstufen hinunter. Vor nur wenigen Stunden war sie zum zweiten Mal in London angekommen. Ein neues Leben hatte begonnen.
Aus dem Salon waren Stimmen zu hören.
Michael war kaum wiederzuerkennen, wie er da in einem sauberen Hemd und Kniehosen am Kamin stand. Er hatte sich rasiert und das Haar geölt. Nun rauchte er und unterhielt sich mit Mr Dillon. Dillon stand mit dem Rücken zur Tür und wärmte seine Hände am Feuer. Die schwarzen Haare reichten ihm bis auf die Schultern. Als Rhia hereinkam, drehte er sich um und verbeugte sich höflich. Dabei wurde sie sich plötzlich der Wackeligkeit ihrer Beine bewusst. Es hatte nichts mit ihm zu tun, sondern lag lediglich am Schwanken der festen Erde, denn ihre Beine waren immer noch auf See.
»Es ist gut, Sie wieder in London zu sehen, Miss Mahoney.«
»Es ist gut, hier zu sein.« Angespannt studierte sie sein Gesicht, doch sie konnte darin keine Spur von Ärger oder Schuldzuweisung erkennen. Trotzdem fiel ihr nichts ein, was sie hätte sagen könnte. Wie es schien, hatte sie vergessen, wie man höflich plauderte, wobei es sicher Menschen gab, die anführen würden, dass sie das noch nie gekonnt hatte.
Antonia hüstelte ein wenig. Sie saß mit ihrer Stickarbeit auf dem Chesterfield-Sofa. Einen Moment lang war es Rhia so vorgekommen, als befände sie sich mit Dillon allein im Zimmer. Antonia lächelte sie an. »Diese Farbe steht Ihnen gut. Jetzt, wo wir alle hier sind, werde ich Beth mit dem Tee helfen. Ich habe Juliette und ihre Mutter in einem Gästehaus in Cornhill untergebracht, wo sie ihr Wiedersehen in aller Ruhe fortsetzen können.«
Antonia verschwand Richtung Küche, und Mr Dillon und Michael setzten ihre Unterhaltung fort. Michael meinte, er sei zu dem Schluss gekommen, dass es so etwas wie freien Handel nicht gäbe –
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