Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
Schals herumfingerte. Sie hatte ihn im Schaufester eines Schneiders in der George Street bewundert, und als Rhia ihn für sie kaufte, hatte sie vor Freude getanzt wie ein junges Mädchen.
Der nächste Halt der Kutsche war vor Antonia Blakes Backstein-Reihenhaus in der Cloak Lane.
»Wir sind da«, sagte Rhia. Niemand rührte sich. Rhia blickte zwischen Michael und Eliza hin und her. »Vielleicht sollte ich zuerst mit Mrs Blake sprechen?« Michael nickte zustimmend, und Eliza brachte nur ein Quieken heraus, ehe sie sich mit den Händen die Wangen hielt.
Rhia betrachtete einen Augenblick lang den schmiedeeisernen Tierkopf mit dem Ring durch die Nase, ehe sie nach dem Klopfer griff. Ihr fiel wieder ein, wie nervös sie gewesen war, als sie vor kaum mehr als einem Jahr mit Ryan hier gestanden hatte. Würde sie drinnen dem Geist ihres früheren Selbst begegnen? Sie klopfte.
Antonia öffnete die Tür. Sie erkannte Rhia nicht sofort, dann wirkte sie verblüfft und umarmte sie heftig.
»Lieber Gott! Bist du es wirklich?« Sie lehnte sich zurück, um Rhia besser ansehen zu können, und auch Rhia betrachtete ihr Gegenüber. Antonia trug ein Kleid aus blauem Wollstoff. Zwar handelte es sich um ein dunkles gedecktes Blau, aber es war trotzdem Blau.
»Willkommen zu Hause«, sagte Antonia, und Rhia widersprach nicht, dass sie noch nicht zu Hause war.
»Ich bin nicht allein«, erwiderte sie stattdessen. So schnell und präzise sie konnte, erklärte sie, wie es kam, dass Juliettes Mutter in der Kutsche unten auf der Straße darauf wartete, ihre Tochter zu sehen, und wer Michael Kelly war.
Weder Rhia noch Michael oder Mrs Blake wohnten dem Wiedersehen zwischen Mutter und Tochter bei. Sie waren sich einig, dass Eliza es sich im Salon bequem machen sollte, während Antonia sich nach Kräften bemühte, Juliette auf den Moment vorzubereiten. Als Antonia sich schließlich zu Rhia und Michael in die Küche gesellte, wo Beth aufgeregt herumwuselte, weil sie sich darum sorgte, wie sie das Mittagessen strecken könnte, um so viele zu füttern, sahen sie alle erwartungsvoll an. Antonia lächelte.
»Ich konnte nicht anders, als einen Augenblick vor der Tür zu verweilen, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist …«, fing sie an.
Rhia nickte ungeduldig. »Konnten Sie etwas hören?«
»Ich habe Juliette lachen hören. Ich glaube, ich habe sie noch nie zuvor lachen hören.« Antonia wischte sich eine Träne von der Wange, obwohl sie lächelte. »Und dann haben sie beide gleichzeitig angefangen zu reden.« Sie sah zuerst Rhia und dann Michael an. »Nun«, begann sie, und dann fehlten ihr offensichtlich die Worte. Der Wasserkessel auf dem Herd zischte beharrlich, also machte sie sich daran, Tee aufzubrühen. »Ich hoffe, dass Sie meine Einladung annehmen, mein Gast zu sein, Mr Kelly«, sagte sie nach einem kurzen Schweigen. »Das Haus war zu lange leer.« Sie stellte Teekanne und Tassen auf den Tisch. »Ich werde eine Nachricht an Mr Dillon und Mr Montgomery schicken. Sie müssen sofort von deiner sicheren Rückkehr erfahren. Mr Dillon hat in Whitehall eine Petition nach der anderen zu deiner Begnadigung eingereicht, Rhia.«
Bei der Erwähnung von Mr Dillon spürte Rhia, wie ihr Herz anfing zu klopfen. Sie würde ihm in die Augen sehen müssen, obwohl er sie sicher hasste. Sie fragte sich, ob wohl auch Antonia sie für Laurence’ Tod verantwortlich machte. Nichts an ihrer Mimik oder ihrem Verhalten ließ darauf schließen. Aber sie war von Natur aus nicht nachtragend. Dillon womöglich schon. Ihm würde nichts an ihrer Gesellschaft liegen, da war sie sich sicher, jetzt wo Laurence nicht mehr vermittelte. Er würde sie hässlich finden, ihr Haar, das gerade erst wieder lang genug für Nadeln war, und ihre dünnen braunen Glieder. Aber warum sollte es ihr etwas ausmachen, was er von ihr dachte?
Antonia und Michael verschwendeten wenig Zeit mit höflichen Formalitäten – Michael wollte wissen, wo sich Isaac aufhielt, und dies schien Antonia nicht einmal zu überraschen.
»Ihre Rückkehr fällt mit der der Mathilda zusammen«, erklärte sie. »Sie hat erst vor wenigen Tagen angelegt. Isaac war seit dem Sommer in Indien.«
»Das ist eine lange Zeit«, bemerkte Michael beiläufig, wobei Rhia wusste, was er dachte.
»Ja«, stimmte Antonia ihm zu, »es ist eine lange Zeit.« Sie fuhr sich mit den Fingerspitzen über die Stirn. »Mr Dillon scheint zu glauben …« Sie zögerte.
»Dass Ihr Freund Isaac die Finger im Chinahandel hat?«
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