Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
unserem Experiment geworden?«, erkundigte sich Mr Montgomery mit einem Lächeln. Er hatte ja keine Ahnung, was er da von ihr verlangte. Außerdem überraschte es sie, dass er es als ihr gemeinsames Experiment ansah. Denn für Antonia war er lediglich einer ihrer Probanden gewesen. In diesem Moment wurde Mr Montgomery zum Glück von einem Kunden abgelenkt. Wie konnte sie ihm das verständlich machen? Zu Frühlingsbeginn, ehe Josiah nach Kalkutta gesegelt war, hatte Antonia beschlossen, mit ihren Experimenten den nächsten Schritt zu wagen. Sie wollte ein Negativ einfangen, indem sie es dem Licht aussetzte. An einem sonnigen Tag kurz darauf trafen sich einige von Josiahs Kollegen, darunter auch Mr Montgomery, in der Cloak Lane, um ein gemeinsames Unternehmen zu besprechen. Antonia hatte an diesem Tag die versammelten Herren nicht nur um Stoffreste und Ausschussware für das Convict Ship Committee, das Gefangenenschiffkomitee, gebeten, sondern sie außerdem auch gefragt, ob sie ihr Modell stehen wollten. Um die neuen Wissenschaften zu unterstützen (oder vielleicht nur, um ihr einen Gefallen zu tun), hatten sich fünf der Gentlemen, einschließlich Josiah dazu bereit erklärt, sich von ihr im Garten zu einem Tableau aufstellen zu lassen.
Das Negativ bewahrte Antonia seither sorgfältig in einem Umschlag aus Seide auf, wie Laurence ihr geraten hatte. Nach der Belichtung sah das Papier nicht anders aus, aber er hatte ihr versichert, das sei normal. Und jetzt, nachdem kürzlich ihre Lizenz eingetroffen war, besaß Antonia endlich die Erlaubnis, das Bild auf Papier zu bringen. Oder wenn sie den Begriff benutzte, den Mr Talbot geprägt hatte, dann würde sie eine Wiedergabe machen. Aber wie konnte sie das tun? Wie konnte sie es ertragen, Josiahs Gesicht zu sehen, das ihr entgegenblickte, als wäre nach seinem Tod ein geisterhaftes Porträt von ihm gezeichnet worden. Eines Tages würde sie den Mut finden, das Negativ und damit Josiahs Gesicht zu belichten. Sie würde ihr Herz direkter mit der Wahrheit konfrontieren, als es ihr Glauben jemals getan hatte. Irgendwann begann man als Trauernder, die Tatsachen zu akzeptieren, statt sie zu leugnen. Das hatte jedenfalls Isaac gesagt, und der musste es wissen, denn er hatte seine Frau verloren.
Mr Beckwith kam aus dem Lager mit zwei prall gefüllten Säcken zurück. Während er sie verschnürte, bemerkte Antonia, dass Mr Montgomery einige ausgesprochen hochwertige Stoffe spenden wollte. Seit Josiahs Tod zeigte er sich wesentlich großzügiger als zuvor. Dafür schätzte ihn Antonia noch mehr. Zu sehr, vielleicht. Das Muster eines Ballens Jacquard sprang ihr ins Auge, und sie trat näher, um ihn genauer zu betrachten. Als sie aufblickte, bemerkte sie, dass Mr Montgomery sie beobachtete.
»Wundervoll, nicht wahr? Natürlich französisch. Aber eines Tages werde ich meine eigene Kollektion haben.« Erneut wurde er von einem Kunden unterbrochen, darum bedankte Antonia sich bei Mr Beckwith und verließ hastig den Laden. Sie war heute nicht sie selbst.
Zurück im Wagen, versuchte sie in Ruhe ihre Gedanken zu ordnen. Möglicherweise würde sie bald noch eine Mitbewohnerin beherbergen. Ryans Beschreibung zufolge war Rhia eine offene und unkonventionelle junge Frau. War sie vorschnell gewesen, als sie eine Fremde, noch dazu eine Ausländerin, in ihr Haus einlud? Antonia seufzte über ihre eigene Ängstlichkeit. Sie sollte voller Hoffnung und nicht voller Furcht sein. Es würde eine Freude sein, noch eine Frau im Haus zu haben, mit der sie sich über die Handelsgeschäfte unterhalten konnte, statt über die Mengen an Essig und Leinöl, die zur Herstellung von Möbelpolitur nötig waren.
Antonia lieferte ihre Säcke beim Meeting House ab und trank eine Tasse dünnen Tee mit der British Ladies Society, wie sich das Sträflingskomitee gern nannte. Das Quäkertum hatte sie immerhin vor der angeborenen Ohnmacht ihres Geschlechts und ihrer Klasse bewahrt. Sie befürwortete die Sicht der Quäker, dass Frauen Gleichberechtigung und Respekt gebührte. Mit der Vollkommenheit von Gottes Wegen hatte sie dagegen in letzter Zeit ihre Probleme. Wie konnte sie nach Josiahs Tod noch länger davon überzeugt sein?
Ihr Blick wanderte zum Fenster, und erst jetzt wurde ihr die Aussicht bewusst. Dieser Teil von Londons Innenstadt summte immer vor Betriebsamkeit. Das Gemeindehaus der Gracechurch lag zwischen der Lloyds Bank und der Bank of England und war nur zwei Straßen von der Königlichen Börse entfernt.
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