Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
wir haben Glück, dass wir Greystones haben. Du wolltest doch immer mehr Zeit dort verbringen.«
Verzweifelt versuchte Rhia zu verstehen, was das alles bedeutete. »Aber wovon sollen wir leben?«
»Wir werden schon eine Lösung finden. Vergiss nicht, dass ich selbst Wolle gesponnen habe, ehe ich deinen Vater kennengelernt habe. Meine Finger sind immer noch geschickt, und da sind außerdem Mamos Schafe. Thomas Kelly webt das beste Tuch weit und breit, und Michael hat seine Strafe nächsten Sommer abgebüßt.«
Rhia bemühte sich, das alles aufzunehmen. Jetzt war ihr klar, wieso ihr Vater wegen der geplatzten Verlobung so wütend gewesen war. Sie fühlte sich wie eine Verbrecherin. »Und ich habe auch noch William O’Donahue gegen mich aufgebracht.«
Brigit schüttelte entschieden den Kopf. »Ein Mann wie er hätte die Verlobung wahrscheinlich sowieso gelöst, sobald er von unseren Problemen gehört hätte. Du hast Glück gehabt, dass dir das erspart geblieben ist, auch wenn ich das in Gegenwart deines Vaters nie so sagen würde.« Es gab wenig, was Brigit in Gegenwart ihres Ehemannes zu sagen wagte. Mamo hatte sich deswegen oft empört.
Ihre Mutter hatte sich immer noch nicht zu Ryans Vorschlag geäußert. Sie würde doch sicher nicht wollen, dass Rhia nach London fuhr? Bestimmt würde sie erwarten, dass sie zu Hause blieb und ihr mit der Wolle half. Außerdem war das Angebot wegen dieser Gouvernanten-Geschichte sowieso nicht wirklich verlockend. Dazu war sie einfach nicht klug genug. Das Einzige, was sie an Latein interessiert hatte, waren Pflanzennamen, und auch ihr Französisch war erbärmlich. »Was ist mit London?«, wagte sie einen Vorstoß.
»Du wärst drei Tage auf dem Meer, bis du nach Holyhead kommst. Würdest du das schaffen?«
»Auf keinen Fall.«
Damit war das Thema erledigt. Rhia war enttäuscht und erleichtert.
Brigit küsste sie auf die Stirn. Dann ließ sie Rhia allein, damit sie sich in den Stoff hüllen konnte, den dieser Tag der Veränderungen für sie weben würde.
Rhia nahm ihre unruhige Wanderung wieder auf. Gedankenverloren wickelte sie einen Ballen mit hübschem Jacquard ab, der auf dem Zuschneidetisch lag, und sammelte Fadenreste vom Boden auf. Sie stellte sich selbst in London vor. Früher hatte sie immer davon geträumt, die Hauptstadt einmal mit ihrem Ehemann zu bereisen, da das Reisen einer der wenigen Vorzüge des Lebens mit Ehemann war. Natürlich wurde es immer unwahrscheinlicher, einen abzukriegen, und Rhia hatte auch immer geschickt verdrängt, dass sie die Stadt nur per Schiff erreichen konnte. Ein Schiff auf dem Meer.
Was die Liebe anging, so handelte es sich offensichtlich eher um ein Produkt des Verstandes denn des Dichterherzens. Es war allgemein bekannt, dass sich Männer von ihren Frauen, abgesehen von einer Mitgift und einer jährlichen Zahlung, vor allem ein sanftes Wesen und angenehme Unterhaltung wünschten. Oder ging es um stete Zustimmung? Und was hatte Liebe damit zu tun? Umso schlimmer, dass dies Liebreize waren, die Rhia so völlig fehlten und für die sie auch keinerlei Interesse aufbringen konnte. Vielleicht war es ihr beschieden, ihr Leben als Gouvernante in einem Quäker-Haushalt zu fristen.
5
S AMT
Auf ihrem Weg zur Pudding Lane wurde Antonia Blake ungünstigerweise von ihren Gefühlen überwältigt. Sie holte ihr Taschentuch heraus, während sie geschickt irgendeinem undefinierbaren Schmutz auf der Straße auswich. Manchmal hatte es auch seine Vorteile, wenn man den Blick gesenkt hielt.
An manchen Tagen kam es ihr so vor, als hätte die Nachricht von Josiahs Tod sie gerade erst erreicht. Heute war so ein Tag. Sie zwang ihre Gedanken, sich ausschließlich auf Schleifen und Bänder zu konzentrieren. Der Theaterschneider schien sich gefreut zu haben, als sie ihn das erste Mal ansprach. Nicht etwa, weil er jemals etwas von einer Gefängnisreform oder den wohltätigen Werken von Elizabeth Fry gehört hätte, sondern weil er sich nun über die Entsorgung von nutzlosen Stoffresten keine Gedanken mehr zu machen brauchte. Natürlich umso besser, hatte er gemeint, wenn diese noch einen Zweck erfüllten, der dem Lumpensammeln überlegen war.
Die Kostümschneiderei in der Pudding Lane war ein unordentliches Vorderzimmer, wo sich in einer Ecke ein Tapeziertisch sowie einige Schaufensterpuppen aus Stroh und Stoff drängten. An diese waren alle möglichen Einzelteile geheftet und gesteckt worden: Knöpfe und Borte einer Tunika im napoleonischen Stil, ein
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