Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
Wasserfall aus gekräuselten Volants für eine shakespearesche Heldin und ein Eselskopf aus echtem Pferdehaar.
Antonia fühlte sich immer überaus unscheinbar, wenn sie den Kostümbildner besuchte. Er machte kein Geheimnis daraus, wie faszinierend er es fand, dass eine wohlhabende Dame wie sie so ganz auf jeden Zierrat verzichtete. Normalerweise schweifte sein Blick unverhohlen über den unvorteilhaften Schnitt und den langweiligen Stoff ihres Kleides. Vermutlich fehlte es ihm noch an Mut, sie direkt nach ihrem Glauben zu fragen. Das Quäkertum war für jemanden, der seinen Lebensunterhalt mit äußerst dekorativer und theatralischer Garderobe verdiente, sicher ein Buch mit sieben Siegeln. Er wusste wahrscheinlich, dass es ihr Glauben verbot, Waffen zu tragen, den Zehnt an die Kirche zu zahlen oder Sakramente zu empfangen. Also war sie irgendwie eine Ketzerin. Wie alle anderen würde auch er außerdem wissen, dass die »Society of Friends«, die Gesellschaft der Freunde, wie die Quäker sich nannten, hervorragende Geschäfte machte und sich unter ihnen Londoner Bankiers und äußerst wohlhabende Kaufleute befanden. Dies war auch Antonias Wissensstand gewesen, ehe sie Josiah Blake kennenlernte.
Doch heute war nicht der Tag für eine solche Unterhaltung. Der Kostümbildner befand sich in einem Zustand höchster Verzweiflung, was nicht ungewöhnlich war. Er schien in der ständigen Angst zu leben, dass er mit irgendeinem Auftrag nicht rechtzeitig zur Kostümprobe fertig werden könnte. Heute gab es Probleme mit dem Mieder einer Schauspielerin, deren Taillenumfang in gleichem Maße wie ihr Erfolg in der Drury Lane zugenommen hatte. Sie ernährte sich inzwischen nur noch von Fleischpasteten und Sahnetorten statt wie früher von Brot und Tee, wie er kummervoll berichtete. Der Kostümbildner überreichte Antonia den Sack mit Stoffresten und schenkte ihrem grauen Leinenkleid mit dem gestärkten weißen Kragen nur einen beiläufigen Blick. Dabei klagte er über die Schwierigkeit, in das Kleid einen Samtstreifen einzusetzen, ohne dass dadurch die elegante Linie des Dekolletés zerstört wurde. Antonia konnte nicht anders, als einen Schritt näher an seinen Tisch heranzutreten und die Teile des problematischen Mieders zu betrachten. Sie war dankbar, sich mit etwas ablenken zu können, für die Linderung ihres Schmerzes.
»Vielleicht könnten Sie ja hier und da zwei schmale Streifen einsetzen anstelle von einem breiteren«, schlug sie vor. »Dann würde es so aussehen, als wäre es Absicht.« Der verschwitzte kleine Mann starrte sie ungläubig an. Sie sah nicht so aus, als hätte sie die leiseste Ahnung vom Schnitt eines Mieders. Antonia lachte, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte. »Mein Vater ist Stoffhändler«, erklärte sie. »In seinem Verkaufsraum sind oft Hemdenmacher und Weißnäherinnen beschäftigt, die Seide ganz genau nach ihren Schnittmustern abmessen, um auch nicht einen Zentimeter des kostbaren Stoffes zu vergeuden. Ich selbst interessiere mich nicht mehr für modische Kleidung, aber ich hoffe doch, dass ich immer noch einen Blick für Silhouetten und … Konturen habe.«
»Den haben Sie in der Tat. Überaus liebenswürdig von Ihnen, Mrs Blake, dass Sie Ihr Expertenwissen mit mir teilen. Ich glaube, Sie haben die Lösung für mein Problem gefunden. Ist Ihr Vater ein Londoner Stoffhändler?«
»Sein Warenhaus befindet sich in Manchester.«
»Dann sind Sie wohl nach Ihrer Heirat nach London gekommen.« Eine geschickte Vorgehensweise, um mehr über sie zu erfahren, ohne direkt nachzufragen.
»Ja. Mein verstorbener Ehemann war Baumwollhändler. Durch die Handelsbeziehungen haben wir uns kennengelernt.«
Der Kostümbildner sah sie verlegen an. »Mein herzliches Beileid. Ich wusste nicht …«
Der Schmerz kehrte zurück. Warum musste sie ausgerechnet heute an ihren Verlust erinnert werden? »Das konnten Sie auch nicht. Und ich muss jetzt wieder weiter. Wie immer ist unsere Organisation äußerst dankbar für Ihre Spende.« Antonia hastete davon, ehe sie wegen einer Unterhaltung mit einem nahezu Unbekannten völlig die Fassung verlor. Kleinigkeiten konnten sie völlig überwältigen. Und sie konnte es immer noch nicht ganz fassen, dass es ihn nicht mehr gab. Wie konnte er fort sein?
Josiah hatte den untadligen Ruf der Händler aus den Reihen der Quäker hochgehalten und war durch und durch Ehrenmann gewesen. Als einer der Ersten hatte er sich zum Handelsembargo gegen China geäußert. Es war ein
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