Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
Handwerk beherrschte oder auch nur kräftig gebaut war, konnte sich einen ordentlichen Lebensunterhalt verdienen.
Michael hatte es nie in Erwägung gezogen, in Sydney zu bleiben. Vor allem wegen Annie. Seit beinahe zwei Jahren lebte er wie ein freier Mann, war bei der Baufirma der Regierung angestellt, und es war kein schlechtes Leben. Das Schlimmste an seiner Verurteilung war immer die Trennung von seiner Frau und seinem Sohn gewesen. Annies Haar war inzwischen vielleicht so grau wie seins. Und Thomas, der kaum mehr als ein Kind war, als man Michael verhaftet hatte, war nun ein erwachsener Mann. Sein Sohn, ein Mann.
Alle paar Wochen kam ein Brief von Thomas, in dem er das Neueste von Annie, Greystones und den Mahoneys berichtete. Diese Briefe waren Michaels wertvollster Schatz. Thomas schrieb niemals offen über die Aktivitäten seiner Männer, denn das wäre zu riskant. Aber es gelang ihm mitzuteilen, ob sie in Sicherheit waren und Erfolg hatten. Die meisten inoffiziellen Nachrichten aus Irland wurden ohnedies von den ständig ins Land strömenden Neuankömmlingen überbracht. Und diese Informationen verarbeitete Michael Kelly mit Hilfe seiner Druckerpresse heimlich zu einer monatlichen Flugschrift.
Das braune Starkbier, das sie Porter nannten, schmeckte eher nach verkohltem Malz. Aber wenigstens konnte man im Harp and Shamrock sicher sein, dass man hier niemals einen englischen Kolonisten antreffen würde. Hier wurden alle Iren, egal ob freie Siedler, Gefangene oder Begnadigte, gleich behandelt. An der Bar saßen all die Männer, die keine Wahl hatten: die Überlebenden von 1798, dem größten Aufstand, den Irland jemals erlebt hatte. Jetzt waren sie alle alte Männer, und da ihre Verbannung politischer Natur war, ließ sie sich nicht widerrufen. Ihr Lebensinhalt bestand darin, dass sie jedem, der es hören wollte, erzählten, wie es gewesen war, als sie hier ankamen. Michael hatte ihnen oft Gehör geschenkt, zuerst aus Interesse, dann aus Mitleid. Jetzt tat er nur noch so, als würde er ihnen lauschen. Inzwischen hatte er eine klare Vorstellung davon, was für eine unwirtliche Barackenstadt Sydney gewesen war, wo die Gefangenen unter ständigem Hunger litten und die Menschen entweder töteten oder von den Eingeborenen getötet wurden. Michael hatte öfter, als ihm lieb war, von unterirdischen Isolationszellen und Wasserlöchern gehört, wo die Gefangenen aus Angst zu ertrinken nicht schlafen konnten. Er wusste von den Fußeisen, den Peitschenschlägen und der gotterbärmlichen Einsamkeit. Die Einsamkeit, darin waren sich alle einig, war das Allerschlimmste.
Viele der politischen Häftlinge waren gebildete Männer und hatten ihre ungenutzten geistigen Fähigkeiten vor allem dazu genutzt, dem Militär und der Polizei des Gouverneurs das Leben schwerzumachen. Aus ihrer Solidarität und Auflehnung stammte Michaels Idee für seinen kleinen Kellerverlag. Und die Veteranen aus dem Harp and Shamrock waren seine treuesten Leser.
Oscar stand mit einem Krug hinter der Bar, jederzeit bereit nachzuschenken. Sein rundes, schweißbedecktes Gesicht glänzte gut gelaunt. Er nickte Michael zu. »Ein Pint, Michael?«
»Aye. Von dem schwarzen Zeug. Darauf freue ich mich den ganzen Tag, und wenn es endlich meinen Gaumen berührt, weiß ich nicht mehr, warum.«
»Liegt am Wasser«, sagte jemand.
»Aye. Zu viel Kalk«, warf ein anderer ein.
»Können von Glück sagen, dass wir das verdammte Wasser haben. Anfangs hatten wir kein frisches Wasser.«
»Na, der Vorrat ist heute auch noch nicht so sicher, oder, Sean? Wo die Bohrlöcher jederzeit austrocknen und die Bleirohre verrosten können.«
Ihre Unterhaltungen waren immer gleich. Niemandem machte es wirklich etwas aus, dass das Starkbier nicht so mild war wie »daheim«, da es immerhin seinen Zweck erfüllte. Aber erwähnt werden musste es trotzdem. Es verband sie. Außerdem ersparte es ihnen das Nachdenken über ein anderes mögliches Gesprächsthema, während sie auf ihre Getränke warteten. Am Ende eines langen, arbeitsreichen Tages hatte niemand wirklich das Bedürfnis nach Konversation. Wenigstens nicht, bis sie ein oder zwei Pints geleert hatten. Daher war es besser so.
Michael nahm sein Glas mit zu einem der umgedrehten Fässer, die als Tische dienten, und zündete seine Pfeife an. Die Laffertys hatten einen Reel angestimmt, und er klopfte mit dem Stiefel im Stroh, das den Holzboden bedeckte, den Takt. Seine Gedanken, die niemals ruhten, wollten sich gerade dem
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