Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
Rhia dagegen schien voller Bewunderung, und Antonia wandte sich mit einem zaghaften Lächeln ab.
Aus Josiahs Arbeitszimmer bekam sie Teile des Gesprächs in der Eingangshalle mit. Rhia sagte es etwas mit leiser Stimme, worauf Ryan antwortete: »Lehn auf keinen Fall ab, wenn dir jemand Geld anbietet, meine Liebe! Ich wünschte, ich könnte dir mehr geben, aber ich habe gerade selbst einen ziemlichen Engpass.« Antonia war von dieser Aussage ziemlich überrascht. Sie hatte Ryan Mahoney immer für einen umsichtigen Investor gehalten. Vielleicht lag sein schlechtes Aussehen doch nicht am Bordeaux. Sie rollte das Dokument zusammen und knotete ein Band darum. Dann trat sie geräuschvoll hinaus in den Flur, um nicht in eine private Unterhaltung zu platzen. Sie reichte Ryan die Papierrolle. »Vielleicht bin ich ja schwer von Begriff, aber aus dem Fahrtenbuch dieses Schiffes scheint hervorzugehen, dass die Mathilda immer noch im Trockendock in Kalkutta liegt.« Ryan runzelte die Stirne und schien etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann aber doch anders. Er verwahrte die Rolle sorgfältig in seiner Manteltasche und lächelte kurz, wobei sein Blick distanziert blieb.
»Einen schönen Tag Ihnen beiden. Genieß London, Rhia.«
Antonia stand mit Rhia in der Tür. Ihr Gast lehnte sich an den Rahmen, als müsste er sie stützen. Es war offensichtlich, dass sie ein Bad und viel Schlaf brauchte.
Die beiden winkten, als sich Ryans Landauer zügig entfernte. Sein Haar wurde von hinten erleuchtet, wie bei einer ihrer Madonnen. Jetzt, wo er sich unbeobachtet glaubte, wirkte sein Gesicht höchst besorgt.
12
D EVORÉ
Der elfenbeinfarbene Brokat der Bettvorhänge bewegte sich leicht, als wäre ein Luftzug durchs Zimmer gestreift. Rhia studierte schläfrig das erhabene Muster. Die Arabesken tanzten und schimmerten im Morgenlicht. Da hatte sie eine Idee.
Gestern nach dem Frühstück war Mrs Blake in den Tiefen des Hauses verschwunden und hatte Rhia Gelegenheit gegeben, sich zu waschen und auszupacken. Ein dralles Dienstmädchen namens Beth, das sehr viel fröhlicher war als das dünne weinerliche, hatte angeboten, ihr ein Bad zu bereiten. Aber Rhia war viel zu erschöpft gewesen, um zu baden. Sie legte sich ins Bett und fiel sogleich in einen tiefen Schlaf. Als sie das erste Mal aufwachte, war es dunkel, und sie hatte den Geräuschen der Stadt gelauscht: Rufe von Hausierern, Hufe auf Kopfsteinpflaster und das Knarren von Wagenrädern. Sie schrieb ein, zwei Zeilen an Mamo und schilderte den Haushalt, danach war sie in den frühen Morgenstunden anscheinend wieder eingeschlafen.
Jetzt zog sie die Bettvorhänge zurück und versuchte am Sonnenstand über den Dächern zu erkennen, wie spät es wohl war. Sie sah sich im Zimmer um und bewunderte die dunklen orientalischen Möbel vor den cremefarbenen Wänden. Es war wirklich so weltoffen, wie es ihr gestern erschienen war. In die Truhe am Fußende des Bettes waren Schriftzeichen eingeschnitzt, die Rhia an die bedruckten Verpackungen von chinesischer Seide erinnerten. Da Josiah Blake im Baumwollhandel tätig gewesen war, hatte er wahrscheinlich regelmäßig den Orient bereist. Was war er wohl für ein Mann gewesen, und wie war er gestorben? Sie hatte eigentlich Ryan nach Antonias Mann fragen wollen, aber er war in einer so merkwürdigen Stimmung gewesen, dass sie es vergessen hatte. Das Zimmer war der Dame des Hauses würdig, beschloss Rhia. Es war schlicht, aber elegant, dezent und trotzdem weltlich. Irgendwann am Morgen hatte jemand das Feuer angezündet und ihre Waschschüssel mit frischem Wasser gefüllt. Ihr Blick fiel auf eine Uhr auf dem Kaminsims. Es war schon nach zehn! Wahrscheinlich hatte sie das Frühstück verpasst. Hastig wusch sie sich, kleidete sich an und eilte die Treppe hinunter, wobei sie immer zwei Stufen auf einmal nahm und beinahe mit einem verlassenen Eimer und Mopp am letzten Treppenabsatz zusammengestoßen wäre.
Der Tisch im Frühstückszimmer war für zwei gedeckt. Vielleicht war sie doch nicht zu spät. Sobald Rhia eingetreten war, kam Beth geschäftig herein und wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Guten Morgen, Miss. Mrs Blake ist bereits unterwegs. Sie macht mit Juliette ihre Runde. Ich soll Ihnen ausrichten, dass sie zum Tee wieder zurück ist.«
»Ihre Runde?«
»Genau. Sie sammeln Kleidung für das Gefangenenschiff in Läden und so.« Beth senkte die Stimme. »Und sie gehen in Gefängnisse .« Sie machte eine Kunstpause und hob eine
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