Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
Augenbraue. »Ich würde nicht freiwillig ins Millbank oder Newgate Gefängnis gehen. Das sind böse Orte.« Sie erschauerte melodramatisch. »Jedenfalls steht Ihr Frühstück auf dem Tisch. Es gibt nur Brot und Marmelade und so was, wie es Mr Blake halt mag – der junge Mr Blake natürlich, denn einen anderen gibt es nicht mehr … Aber ich kann Ihnen auch Eier oder Porridge machen, wenn Sie das lieber möchten.«
Rhia merkte genau, dass Beth weder Eier noch Porridge kochen wollte. »Ich nehme an, Sie haben Wichtigeres zu tun.«
Beth sah den Gast angenehm überrascht an. »Ja, das stimmt«, bestätigte sie hastig und verschwand, ehe Rhia ihre Meinung ändern konnte.
Rhia setzte sich an den Frühstückstisch. Mrs Blake hatte eine Ausgabe einer Zeitung, den London Globe , aufgeschlagen liegen lassen. Wahrscheinlich dachte sie, diese Seite würde Rhia interessieren. Offensichtlich hatte dieser Haushalt kein Problem mit Zeitung lesenden Frauen. Die Seite war in schmale Spalten aufgeteilt, und die Buchstaben waren so winzig, dass man sie kaum erkennen konnte. Rhia beugte sich über das Blatt. In Regent’s Park war ein geräumiges Haus samt Kutscherhaus, Wasserklosett und Kontor zu vermieten. Für fünf Monate kostete es hundertfünfzig Guineen. Eine Gemeinde in Limehouse suchte einen Metzger, der sie mit Schlegeln, Lämmern und Ochsen versorgen konnte, einschließlich Talg. Die Tochter eines ehrbaren Offiziers wollte Erdkunde, französische Grammatik und etwas Latein unterrichten. Diese Dame zeichnete sich offenbar durch Fähigkeiten und Erziehung aus. Rhia seufzte. Welche Chance hatte sie gegen die Tochter eines ehrbaren Offiziers?
Sie spürte einen Luftzug im Nacken, als hätte sich hinter ihr eine Tür geöffnet. Sie wandte sich um, aber da hing nur die fotogene Zeichnung der hohen bleichen Baumstämme, wie die Säule eines klassischen Tempels. Gestern hatte sie sich eingebildet, eine schattenhafte Gestalt zwischen diesen geisterhaften Bäumen zu sehen. Natürlich war sie übermüdet gewesen und außerdem, wer hatte schon je von einer Erscheinung in einem Gemälde gehört. Natürlich war das nicht wirklich ein Gemälde, obwohl es dem sehr ähnlich war. Vielleicht hatten sie auch diese ganzen Bilder der Heiligen Jungfrau aus der Fassung gebracht. Deren Anwesenheit irritierte Rhia beinahe ebenso sehr wie die Bäume. Sie wandte der Fotografie und den Madonnen bewusst den Rücken zu und bemerkte dabei, dass ein Mann in der Tür stand und sie beobachtete. Ein echter Mann, keine Erscheinung, auch wenn sie sich langsam Sorgen machte, ob sie die beiden unterscheiden konnte. Es handelte sich um einen lächelnden, jungenhaften Mann mit Augen so blau wie Kirchenfensterglas. Sie hatte keine Ahnung, wie lange er schon dort stand.
»Sie müssen Miss Mahoney sein.«
»Und Sie sind Mr Blake.«
»Nennen Sie mich doch bitte Laurence. Antonia tut das auch. Quäker halten nicht viel von Förmlichkeiten.«
»Dann sollten Sie wohl Rhia zu mir sagen.«
»Sehr gerne«, antwortete Laurence mit einem strahlenden Lächeln.
»Aber ich dachte, es gilt in London als unhöflich, einen Fremden beim Vornamen zu nennen?« Das gehörte zu den rätselhaften Etiketten, die sie so gefürchtet hatte.
»Dann müssen wir eben so tun, als wären wir alte Freunde.«
Rhia lachte. Sie mochte Laurence Blake mit seiner nachlässig gebundenen Krawatte und seiner zerknitterten Hemdbrust sofort. Er hielt einen Zylinder in der Hand, als wäre er gerade am Gehen. Mit der anderen Hand versuchte er, seinen dunkelblonden Haarschopf zu bändigen.
»Ich hoffe, ich störe Sie nicht«, sagte er plötzlich verlegen.
»O nein, ich freue mich sehr, dass Sie mich unterbrechen. Ansonsten wäre ich gezwungen, nach einer Stellung zu suchen.«
»Aha.« Er wirkte aber nicht so, als hätte er sie verstanden. »Falls Sie weitere Unterstützung bei dieser Angelegenheit benötigen, würden Sie mir dann eventuell gestatten, Ihnen beim Frühstück Gesellschaft zu leisten?«
»Aber der Tisch ist sowieso für Sie gedeckt.«
»Das liegt daran, dass Beth ein echter Schatz ist, selbst wenn sie sich dauernd beklagt, dass sie theoretisch kein Küchenmädchen oder keine Haushälterin ist. Ich wollte eigentlich den Schreibwarenhändler in Cornhill aufsuchen, aber das kann warten. Außerdem regnet es.« Er nahm ihr gegenüber Platz, wobei der Blick seiner äußerst blauen Augen fast ständig auf ihrem Gesicht ruhte. »Darf ich fragen, welche Profession die Ehre haben wird?«
Rhia
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