Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
brauche dringend Gesellschaft. Es ist ein Segen, dass Laurence da ist, auch wenn er oft geschäftlich im Ausland weilt. Aus Stille entsteht nur wieder Stille, und es scheint ein Verbrechen, dass so viele Zimmer leer stehen, wo es doch so viele Menschen ohne ein Dach über dem Kopf gibt.«
Während sie sich unterhielten, hatte Juliette, stumm wie ein Gespenst, Brotkörbchen und Glasschüsseln auf den Tisch gestellt. Es war ein einfaches Frühstück aus Eingemachtem, Weißbrot und dunklem Kaffee. Rhia bestrich ihr Brot mit Butter und nippte an ihrem Kaffee. Gleichzeitig suchte Antonia nach einem passenden Gesprächsthema. Sie spürte, dass Ryan mit seinen Gedanken weit weg war, was ihr die Entscheidung deutlich erleichterte.
»Was für ein bezauberndes Kleid. In dem Moosgrün sehen Sie aus wie eine Waldnymphe.« Sie vermutete, dass der modische weiße Stoffstreifen nachträglich in die Korsage eingefügt worden war, aber über solche Sparsamkeiten sprach man in London nicht. Rhias dunkle Augen blitzten verschmitzt auf.
»Die Waldnymphen, die ich gesehen habe, trugen nur Farnkraut und Spinnweben«, verkündete sie. Dann biss sie wieder von ihrem Marmeladenbrot ab und redete, noch ehe sie fertig gekaut hatte. »Die Ärmel habe ich nicht eng genug hingekriegt, aber der Stoff ist von Mahoney.«
Antonia hätte am liebsten gelacht. Ob die mangelnde Sittsamkeit wohl typisch irisch oder typisch Rhia war? Sie wusste so gut wie gar nichts über die keltischen Sitten, denn Ryan war durch und durch Londoner. Was hatte sie sich da nur aufgebürdet? Aber gut, es war ein Abenteuer, und so eins brauchte sie ganz dringend. »Ich hatte mich schon gefragt, ob der Stoff wohl von Mahoney stammt. Mit großer Bestürzung habe ich vom Unglück Ihrer Familie gehört. In der Vergangenheit habe ich selbst immer wieder Mahoney-Leinen gekauft. Die Qualität war immer die beste, die zu bekommen war. Der Stoff ist die interessantere Hälfte des ganzen Modebetriebs.«
Rhia sah sie erfreut an und nickte zustimmend. »Das stimmt auf jeden Fall. Einige der Aufmachungen, die ich heute Morgen gesehen habe, sollen doch nur zur Schau stellen, dass man sich eine Kammerzofe leisten kann. Wer könnte sich schon selbst in derart enge Korsette schnüren?«
Rhias Gesellschaft würde unterhaltsam sein, aber Antonia war immer noch leicht irritiert von ihr. Unter ihrer Energie lag etwas Wildes verborgen, und ihre Bemerkung über die Waldnymphen war sicher nur zum Teil scherzhaft gemeint gewesen. Doch Antonia lächelte und griff das Thema wieder auf. »Unser Geschlecht wird bedauerlicherweise in dem Glauben erzogen, dass eine echte Lady hilflos ist. Ja, es ist unmöglich, ohne die Hilfe einer Kammerzofe modische Unterkleider zu tragen. Und ohne die entsprechende Unterkleidung besitzt eine Dame nicht die erforderliche Figur …«
»Außer sie hungert«, ereiferte sich Rhia. »Ich kenne Mädchen in Dublin, die keine Kartoffeln mehr essen, bis man ihr Korsett auf vierzig Zentimeter zusammenschnüren kann. Jemand sollte ihnen mal sagen, dass die Bauernkinder, die nichts anderes als Kartoffeln zu essen haben, dünn wie Bohnenstangen sind.«
Rhia gehörte sicher nicht zu denen, die Hunger leiden mussten. Sie hatte Fleisch an all den richtigen Stellen und bestrich sich gerade das dritte Frühstücksbrot. Antonia war erleichtert, dass sie ein gemeinsames Gesprächsthema gefunden hatten, auch wenn es Ryan nicht interessierte. Er hatte ihnen mit schwindender Geduld gelauscht und wurde allmählich unruhig. Nun erhob er sich.
»Ich werde London heute Nachmittag verlassen. Es gibt eine Baumwollfabrik in Essex, die ich mir ansehen will. Ich werde ein, zwei Tage unterwegs sein. Aber Sie beide haben sich ja eine Menge zu erzählen. Ich melde mich dann später in der Woche, Rhia.«
Antonia fiel etwas ein. »Bevor Sie gehen, möchte ich Sie noch um einen Rat fragen. Ich habe hier ein paar Frachtpapiere, die mich verwirren. Ich versuche nämlich gerade vergeblich, Josiahs Methode zu durchschauen. Würden Sie für mich noch einen Blick darauf werfen? Aber wenn Sie keine Zeit mehr haben, kann ich auch Isaac fragen …«
»Natürlich, keine Ursache. Dann haben Sie also vor, die Geschäfte weiterzuführen? Aber Sie wollen das doch nicht alleine tun, oder, Antonia?«
»Irgendwann einmal. Warum nicht?« Sie erwähnte nicht, dass sie sich immer noch nicht wieder stark genug fühlte. Sie sagte auch nicht, dass sie um Mut betete.
Ryan wirkte leicht irritiert, erwiderte aber nichts.
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