Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
abfangen wollen. In der rechten Hand hielt er eine Pistole mit silbernem Lauf und einem Griff aus geschnitztem Elfenbein. Die Waffe wirkte auf hinterhältige Weise schön, als hätte sie einen verzweifelten Mann betört. Auf den Fußbodenbrettern unter Ryans linker Achsel und unter seinem Kopf war eine dunkle Lache. Rhia begriff erst nach einem Moment, dass das Blut war. Sie fühlte, wie ihre Beine nachgaben. Ryans blutleeres Gesicht war in Richtung der Pistole gewandt und wirkte wie aus Wachs, umgeben von einem dunkelroten Rahmen. Gott sei Dank waren seine Augen geschlossen.
Er war tot.
Es war wahr.
Rhia hatte es mit eigenen Augen sehen müssen. Doch jetzt wurde ihr so kalt, dass sie die Zähne zusammenbeißen musste, damit sie nicht laut klapperten.
Mrs Bribb erschauerte und bekreuzigte sich. »Hab ich noch nie mögen, seine Pistolen und das Zeug.« Sie warf einen misstrauischen Blick zu einem Aktenschrank hinüber, wo auf den obersten Regalbrettern die Auszeichnungen für Ryans Kollektion standen. »Keiner hat den Schuss gehört, da is wohl grad ein Schiff reinkommen. Dann ist unten am Wasser immer mords was los.« Mrs Bribb schien sich in Richtung Tür verdrücken zu wollen. »Ich geh dann mal. Sagen Sie einfach Bescheid, wenn Sie fertig sind, dann sperr ich ab.«
Mr Dillon verbeugte sich so tief vor ihr, als wäre sie eine ehrbare Matrone. »Meinen aufrichtigen Dank, Mrs Bribb. Wären Sie vielleicht so freundlich, nicht zu erwähnen, dass bereits jemand hier gewesen ist, wenn Sie die Polizei verständigen?«
»Keine Sorge, Sir. Ich werd nix sagen und die Kinder auch nich. Wir hier sind nich so dumm, dass wir den Bobbys helfen. Ihnen allen einen schönen Tag noch und Ihnen, Miss, mein Beileid. Ich setz unten gleich den Teekessel auf, und Sie können gern was haben, wenn Sie wollen.«
Nachdem sie verschwunden war, riss sich Rhia aus der Benommenheit des Schocks. Dillon schritt langsam einen Kreis um die Leiche ab, als wollte er etwas abmessen. Laurence dagegen saß mit weißem Gesicht auf einer Kiste. Rhia suchte sich etwas, auf das sie sich, abgesehen von der Leiche, konzentrieren konnte. Das vordere Ende des Lagerraums war geräumig, auf eine schäbige Art und Weise gemütlich und mit dem Nötigsten einer Wohnung ausgestattet. Auf einer Seite stand ein teuer wirkender Lehnstuhl aus Leder, daneben die Kommode, in der die Pistolen aufbewahrt wurden. An der gegenüberliegenden Wand waren ein kleiner Herd und ein Tisch aus Kiefernholz. Dazwischen befanden sich unter einer langen Fensterfront der Schreibtisch und eine französische Schlafcouch. Von dort hatte man freie Sicht auf den China Wharf und über die Themse.
Rhia wurde mehr von Ryans Verabschiedung vor zwei Tagen als von seiner Erscheinung am vergangenen Abend gequält. Das Licht hatte sein Haar so zum Leuchten gebracht, als hätte seine Verzweiflung einen Schutzengel herbeigerufen. Er hatte gesagt, sie würden sich am Ende der Woche wiedersehen, und ihr war dabei keine Mehrdeutigkeit aufgefallen, kein Hinweis auf das, was geschehen würde. Es konnte nur eine Verzweiflungstat gewesen sein. Aber dass ihr das entgangen war! Beim nächsten Gedanken wurde ihr übel. Was, wenn sie es irgendwie hätte verhindern können?
Um diese Überlegung zu verdrängen, schritt sie langsam zwischen den Besitztümern ihres Onkels umher. Ihr Blick blieb an einem tadellos geschneiderten Jackett und einem polierten Lederhut, an weißen Hemden und Kragen hängen, die Ryan nie mehr tragen würde. Dann zwang sie sich, die Kommode zu inspizieren, die die tödliche Sammlung enthielt. Die Qualität der handwerklichen Verarbeitung war auch für jemanden offensichtlich, der keinerlei Fachkenntnis von Schusswaffen besaß. Die Pistolen waren von einer überraschenden Schönheit. Bestimmte Teile waren aus poliertem Holz, andere aus graviertem Elfenbein, Silber, Gold und Nickel.
Rhia bildete sich ein, flüchtig den Geruch von Wollfett und Lavendel wahrzunehmen, und seine Vertrautheit tröstete sie. Ein leichter Luftzug hob ein weißes Stück Papier an, das unter den Haken auf dem Boden lag, eine Visitenkarte. Hatte sie eben auch schon dagelegen? Sie hob die Karte auf. Darauf war die Adresse des Jerusalem Coffee House in der Lombard Street gedruckt. Auf der Rückseite entdeckte sie eine Reihe von Zahlen sowie ein orientalisches Schriftzeichen. Geistesabwesend steckte sie die Karte in ihre Handtasche, und als sie zum anderen Ende des Raums hinübersah, ertappte sie Mr Dillon dabei, wie
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