Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
»Ja, Mister? Soll ich Ihr Pferd striegeln? Und die Schuhe kann ich auch putzen«, rief er vorwitzig und deutete auf Mr Dillons Stiefel.
»Du kannst uns eine Droschke suchen, die uns draußen abholt, Junge«, erwiderte Laurence und drückte ihm eine Kupfermünze in die Hand. Der Junge nickte grinsend und verschwand.
Rhia hörte zu, wie Dillon Laurence mit gedämpfter Stimme von seiner Entdeckung erzählte. Er hatte Ryan kürzlich besucht, um mit ihm etwas Geschäftliches (was?) zu besprechen, und heute Morgen hatte die Putzfrau seine Visitenkarte gefunden und nicht gewusst, an wen sie sich sonst wenden könnte. Er wurde von der Ankunft der Droschke unterbrochen. Der Fahrer pfiff fröhlich vor sich hin und klopfte den Staub von seinem ramponierten Pork-Pie-Hut.
Rasch befanden sie sich inmitten des Gedränges und Tumults einer Hauptstraße, wo sie plötzlich hinter einem Postwagen anhalten mussten. Laurence streckte den Kopf zum Fenster hinaus und seufzte frustriert.
»Der Kutscher wechselt die Pferde, anscheinend lahmt eins.«
Rhia nickte, hörte ihn jedoch kaum. Dillon hatte ein Notizbuch aus der Tasche gezogen und blätterte es durch, als würde er etwas suchen, während Laurence immer noch den Kopf zum Fenster hinausstreckte und ab und zu genervt seufzte.
Der Lärm und das Geschehen auf der Straße schienen sich zu entfernen. Ein Luftzug strich sanft vorbei wie eine Rauchschwade am Rande von Rhias Gesichtsfeld. Sie verspürte eine hauchzarte Berührung wie das Streicheln einer Feder auf ihren Armen, was ihr eine Gänsehaut verursachte. Sah sie hier ihren eigenen Schatten?
»Miss Mahoney, geht es Ihnen gut?« Sie hatte gar nicht bemerkt, wie sie zusammengekrümmt in der Ecke der Kutsche saß. Jetzt verspürte sie einen Würgereiz. Die Erscheinung war blitzartig verschwunden, und der Geruch von feuchtem Pferdefell und abgestandenem Tabak im Wagen schien sie plötzlich zu überwältigen. Sie setzte sich auf. Laurence hatte seinen Kopf wieder eingezogen, und beide Männer starrten sie an. Sie nickte ihnen schwach zu und wandte sich unter dem Vorwand ab, sie hätte draußen etwas Interessantes entdeckt, jetzt wo sie wieder weiterfuhren. Immer noch konnte sie Mr Dillons Blick spüren. Sie wusste, er würde sie gleich ansprechen, doch sie wünschte, er würde es nicht tun.
»Fühlen Sie sich in der Lage, ein paar Fragen zu beantworten, Miss Mahoney?« Sein Ton war zwar sehr freundlich, aber er wartete ihre Antwort gar nicht erst ab. »Es ist überaus wichtig, dass wir möglichst schnell dort sind, denn wenn Scotland Yard erst einmal informiert ist, könnten sie uns möglicherweise den Zugang zu den Räumen, dem Vermögen und – es tut mir leid, wenn ich das so direkt sagen muss – der Leiche Ihres Onkels verwehren.«
Sein Akzent klang irgendwie vertraut, aber sie brauchte einen Moment, um ihn einzuordnen. Er hatte denselben Singsang wie Mamo, also war er Waliser. Das hätte sie eigentlich nicht überraschen sollen, denn sie hatte gehört, dass jeder Kelte in London, falls es sich nicht um Bettler, Schuster oder Schneider handelte, mit Sicherheit Journalist war.
»Kannten Sie meinen Onkel gut?«
Er überging ihre Frage. »Bitte sagen Sie mir, worüber Sie beim letzten Treffen mit Ryan gesprochen haben.«
Rhias Misstrauen stieg. »Worüber haben Sie denn bei Ihrem letzten Treffen geredet?«
Er warf ihr einen überraschten Blick zu, antwortete aber nicht. Hatte er etwas zu verbergen?
»Außerdem wüsste ich nicht, weshalb es Sie etwas anginge, was ich mit meinem Onkel besprochen habe«, wehrte sie ab.
»Das erwarte ich auch nicht von Ihnen, Miss Mahoney. Vielleicht sollte ich meine Frage etwas anders formulieren. Ist Ihnen an Ihrem Onkel etwas Ungewöhnliches aufgefallen, als Sie ihn das letzte Mal sahen?«
Rhia fing einen Blick von Laurence auf. Er wirkte, als wollte er sich einmischen, hätte es sich aber dann doch anders überlegt. Sie biss sich auf die Lippe, als ihr Ryans Abschied wieder einfiel. »Ja. Er schien … beunruhigt. Vielleicht auch …« Sie hielt inne. Das war ein Journalist, eventuell sogar ein Zeilenschinder, mit dem sie da gerade sprach. Sie sollte die Privatsphäre ihres Onkels schützen und nicht einem Mann, den sie kaum kannte und dem sie nicht vertraute, irgendetwas über ihn erzählen.
Beide Männer beobachteten sie und warteten, wie sie fortfahren würde. Rhia ließ sich noch tiefer in ihren Mantel sinken und blickte schweigend auf ihre Hände.
Schließlich ergriff Laurence mit
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