Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
er sie beobachtete. Sogleich wandte er den Blick ab.
Irgendetwas zog sie zu der Fensterfront, die sich über die gesamte Längsseite des Raumes erstreckte. Man sah auf Lagerhäuser und Dächer, und dahinter auf ein Gewirr aus Masten und Takelwerk. Hatte Ryan zugeschaut, wie eine Schiffsladung Tuch gelöscht wurde, und dabei über seinen eigenen Tod nachgedacht? Rhia fühlte sich beim Gedanken daran äußerst elend. Wie verzweifelt musste man sein, um sich den Tod zu wünschen? Die Masten schwankten sanft im Rhythmus der Flussströmung, und ihr kam ein weiterer erdrückender Gedanke: Wie würde ihr Vater diese neuerliche Katastrophe verkraften?
Sie schloss die Augen und wünschte, der Schleier würde sich heben, wie es in der Nacht des Feuers geschehen war. Ausnahmsweise wollte sie die Wesen der Anderswelt zu Hilfe rufen, ob sie nun Geister oder Erscheinungen waren. Welchen Sinn hatten sie denn sonst, abgesehen davon, Menschen wie sie selbst zu ärgern? Doch die Atmosphäre war ungestört. Kein Flackern am Rand ihres Gesichtsfelds, nur die harte Realität der Lebenden. Erst jetzt bemerkte sie das gedämpfte Gemurmel von der anderen Seite des Raums und nahm beim Umdrehen wahr, dass die beiden Männer sie beobachteten. Zweifelsohne dachten sie, der Kummer hätte sie so verstört. Und vielleicht stimmte das ja auch. Sie erhob sich langsam wieder und merkte, wie ihre Schultern nach vorn sackten. Mit großer Mühe straffte sie den Rücken und ging zu den Männern hinüber, wobei sie den Blick starr geradeaus gerichtet hielt, um Ryans Leiche nicht ansehen zu müssen.
»Gibt es irgendetwas …?«, fragte sie in der Hoffnung, dass sie zu dem Schluss gekommen waren, dass es doch ein Unfall gewesen war.
»Eine oberflächliche Suche hat nichts ergeben, aber Sie sehen ja selbst, dass das eine größere Aufgabe ist«, antwortete Mr Dillon und deutete auf die Stapel von Dokumenten, Kassenbüchern und Briefen auf dem Schreibtisch. »Mich interessieren die näheren Umstände von Mr Mahoneys Tod. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gerne noch ein bisschen bleiben.«
Wie konnte sie Einwände haben? Nachdem sie sonst niemanden hatte, an den sie sich wenden konnte. »Natürlich. Ich bin Ihnen ja so dankbar. Ich selbst wüsste nicht …« Ihre Stimme bebte, so dass sie den Satz unbeendet ließ.
Laurence nahm wie selbstverständlich ihre Hand. »Rhia, darf ich Ihnen einen Rat geben?« Rhia meinte, trotz seiner Blässe einen Funken seines Witzes zu entdecken. Offensichtlich erinnerte er sich an seinen früheren Versuch, eine Empfehlung auszusprechen.
»Es wäre mir eine große Erleichterung.« Sie lächelte, so gut es ging.
»Verschiedene Dinge müssen in die Wege geleitet werden, und es ist entscheidend, dass wir uns rasch darum kümmern. Sie müssen sich beschäftigen. Kein Priester wird Ryan ein ordentliches Begräbnis verweigern, wenn wir die Umstände seines Todes für uns behalten. Wir brauchen auch einige Informationen für die Vorbereitungen des Begräbnisses. Aber zuerst suchen wir die gute Mrs Bribb und ihren Tee auf. Sie wird wissen, in welche Kirche Ihr Onkel ging.«
Rhia stimmte auch deswegen zu, weil ihr plötzlich noch eine Frage an die gute Mrs Bribb eingefallen war. Sie wandte sich an Mr Dillon. »Bitte verheimlichen Sie mir nichts, auch wenn es … verstörend sein könnte. Ich ertrage die Wahrheit.«
»Ja, Miss Mahoney, das habe ich gemerkt.« Er hielt inne. »Darf ich Sie fragen, warum Sie nach London gekommen sind?«
Die Frage war sehr direkt, und Rhia hatte wie zuvor in der Droschke das Gefühl, verhört zu werden.
»Ich hatte gehofft, hier eine Anstellung zu finden, doch jetzt …« Sie sah aus dem Fenster und biss sich auf die Lippe. Es war ihr unmöglich fortzufahren. Sie hatte keine Ahnung, was jetzt passieren würde.
»Wenn Sie schon so weit gekommen sind, Miss Mahoney, dann sollten Sie vielleicht ausprobieren, was Sie noch alles schaffen können.« Das war ein unerwarteter und ungerechtfertigter Rat von einem Fremden, und sie hätte ihn scharf zurechtgewiesen, wenn sie die Kraft dazu gehabt hätte. Mr Dillons Miene schien undurchdringlich und wachsam, und Rhia fragte sich, ob er etwas wusste, was er für sich behielt. Er verbeugte sich höflich und wandte sich zu Ryans Schreibtisch um, wo er einige Papiere durchblätterte.
Mrs Bribbs Behausung war ein schmaler Schlauch im hinteren Gebäudeteil. Von dort sah man auf eine enge Gasse hinaus, wo ein Haufen schmutziger Kinder spielte. Sie räumte
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