Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
hatte Rhia bereits den Fuß der Treppe erreicht. Und plötzlich hatte sie nicht mehr das Gefühl zu schweben. Ohne Vorwarnung sackte sie auf der untersten Stufe zusammen, als wäre sie erleichtert, endlich zu sitzen.
»Juliette! Rasch, bring mein Riechsalz!« Antonia und Laurence waren überraschend schnell bei ihr, und Rhia wunderte sich, warum sie so in Eile waren, nur weil sie sich auf einer Stufe niedergelassen hatte. Mit Antonia auf der einen und Laurence auf der anderen Seite wurde sie die Treppe zu ihrem Zimmer mehr oder weniger hinaufgetragen. Laurence flüsterte ihr etwas zu, ehe er ging, aber sie verstand nicht, was er sagte, und es war ihr auch egal.
Flink öffnete Juliette mit einem Knopfhaken ihr Mieder, und Antonia löste ihr Haar. Die Gesellschaft der beiden Frauen hatte etwas Tröstliches, und dennoch waren ihr die Arme ihrer Mutter noch nie so weit weg erschienen. Sie wollte nach Hause. Innerhalb eines Tages war London von einer Stadt voller Leben und Erwartungen zu einem Ort geworden, an dem der Tod diejenigen heimsuchte, die ihn nicht erwarteten.
Sie glitt in dem Bewusstsein in den Schlaf, dass noch jemand im Zimmer war. Antonia? Nein. Die Haare dieser Frau waren wie Strähnen aus Meeresbrise, und sie trug einen geflochtenen Gürtel aus Algen und Korallen, an dem Muschelsstücke hingen. Rhia nahm an, dass sie bereits schlief, da sie ja wohl kaum tot war. Ryan war tot. Eine Muschel sah aus wie ein perlmuttfarbener Schlüssel in Form eines dreifachen Knotens. Derselbe Knoten wie auf ihrem Füller. Rhiannons Schlüssel zur Anderswelt …
15
S EIDENKREPP
Michael erwachte wie so oft im Keller von Maggies Bordell. Das Erste, was er sah, war das große, staubige Zahnrad der Stanhope-Presse mit ihren tintengeschwärzten Walzen und hölzernen Druckhebeln. Er blieb noch eine Weile liegen und sinnierte darüber nach, dass er die Smith-Jungs schon seit Wochen nicht mehr gesehen hatte. Dann dachte er an kleine Aufgaben, um die er sich kümmern musste. Ihm war zum Beispiel aufgefallen, dass vom Buchstaben R ein kleines Stückchen abgeplatzt war, so dass es wie ein K aussah. Doch die einzigen Druckstöcke, die er in der George Street gefunden hatte, waren aus Holz, nicht aus Blei und außerdem handgemacht. Und sein Papier stammte aus der Metzgerei am Kai. Ihm machte das Setzen, Einfärben und Drucken ebenso viel Spaß wie das Schreiben der Texte. Aus dieser Arbeit gewann er eine tiefe Befriedigung, die ihn vor der Verzweiflung heimwehgeplagter Nächte bewahrte.
Die gusseiserne Stanhope-Presse war vermutlich der größte Gegenstand, der jemals von einem Taschendieb gestohlen worden war. Ehe sie in Maggies Keller gelandet war, war sie ein Jahr lang in den verwaisten Büros des Defender verstaubt, ehe Michael sie entdeckt hatte. Der Defender war der kurzlebige Versuch einer Zeitung mit irischen Sympathien und liberalen Ansichten gewesen. Nur wenige von denen, die sich für seinen Inhalt interessierten, konnten sich den Penny für eine wöchentliche Zeitung leisten. Michael hatte immer das Gefühl, dass die Stanhope eher gerettet und ihrer ursprünglichen Bestimmung wieder zugeführt, als gestohlen worden war.
Der fragliche Taschendieb war Joey Smith gewesen. Joey und seine beiden Brüder waren alle mit verschiedenen Transporten in Sydney gelandet, ohne dass einer von ihnen das je vorgehabt hätte. Der Familienname war erfunden, da die Smith-Jungs keine Ahnung hatten, wer ihr Vater war, oder ob sie überhaupt alle denselben hatten. Auf den Namen waren sie gekommen, weil er zu ihrem Beruf passte. Hätten sie ihre vollständige Berufsbezeichnung Fingersmith – also Langfinger – gewählt, dann hätten sie nur noch mehr Probleme mit dem Gesetz bekommen, als sie sowieso schon hatten.
Die Flugschrift bestand immer aus zwei Doppelseiten und wurde heimlich jeden Monat von ein paar Zeitungsjungen des Sydney Herald verbreitet. Die Jungen waren die Söhne von Iren, die wegen ihres Intellekts und ihrer Ideologie und nicht wegen irgendwelcher Verbrechen gegen die Engländer deportiert worden waren. Ironischerweise war der Herald eine Zeitung für den Adel und wurde von Männern mit genau der Überzeugung herausgegeben, aus der heraus die Väter der Zeitungsjungen verfolgt (und verurteilt) worden waren. Michael hatte dies Will gegenüber mal im Shamrock erwähnt, und Will hatte mit einem Schnauben erwidert, dass Ideologien kluge Männer in Betrunkene verwandelten. Das war insofern passend, als sie von lauter klugen
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