Am Horizont die Freiheit
das entehrende gelbe Büßerhemd mit den roten Kreuzen und die ebenfalls gelbrote Büßermütze. Er hielt eine nicht angezündete Kerze in den Händen und hatte einen Strick um den Hals, der ihn mit seiner Frau Joana verband. Sie lief hinter ihm und war auf die gleiche Weise gekleidet. Beide sahen abgemagert aus, und ihre Gesichter mit den stark umschatteten Augen zeigten die Spuren der Gefängnistage, der Drangsale und, was beinahe sicher war, der Folter. Sie senkten den Kopf, und ihr Blick verirrte sich irgendwo auf dem Boden. Als sie die Calle Especiers betraten, trat tiefes Schweigen ein. Dies bekundete die Achtung ihrer früheren Nachbarn, die die Buchhändler stets für gute Leute gehalten hatten. Die Corrós blickten hoch, um die Buchhandlung anzusehen, in der sie so viele Jahre glücklich gelebt hatten. Dort waren ihre Eltern gestorben und ihre Kinder geboren. Doch sie hatte ihre Türen für immer geschlossen. Dort entdeckten sie ihre Arbeiter, die sie betrübt betrachteten. Die beiden zeigten mit einer Geste, dass sie sie erkannten. Joana wollte ein liebenswürdiges Lächeln andeuten, doch es ging sofort in Tränen unter. Die Jungen begrüßten sie winkend, und Meister Guillem rief ihnen zu: »Gott schütze Euch!«
»Man soll gerecht urteilen und Euch freilassen!«, setzte Joan hinzu.
Einer der Soldaten, die das Ehepaar eskortierten, stieß ihn heftig fort und sah sie scharf an, bevor er sagte: »Besser für euch, wenn ihr den Mund haltet und Achtung zeigt!«
Alle schwiegen, doch Lluís schluchzte unwillkürlich auf. Mit Tränen in den Augen legte ihm Joan den Arm um die Schultern.
Nach Joana Corró kam ein weiterer Gefangener mit einem Strick um den Hals, der ebenfalls das Büßerkleid trug. Dann folgten wieder ein Kreuz, das von einem Dominikaner getragen wurde, und eine Gruppe von vierzig Soldaten. Jeder von ihnen schleppte eine aus Hanf angefertigte, lebensgroße Puppe. Auch diese trugen gelbe Büßerhemden und -mützen mit roten Kreuzen, und jede hatte ein Pergament mit dem Namen des Angeklagten. Sie stellten vierzig geflohene Konvertiten dar, deren Urteil man zusammen mit dem der drei beim Autodafé Anwesenden verkünden würde.
Dann zogen weitere vermummte und barfüßige Dominikaner vorbei. Sie sangen Psalmen, wobei sich das »Miserere mei, Deus« – »Herr, erbarme dich« – mehrmals wiederholte.
Eine Soldatengruppe schloss die Prozession ab. Mit ihren langsamen Trommelwirbeln bezeichnete sie den Gang des Todes. Ihnen lief eine neugierige Menge nach, die laut jubelte und danach gierte, dem Schauspiel beizuwohnen. Zu ihnen gehörte Felip, den die Mitglieder seiner Bande begleiteten. Er blickte sie mit einem herausfordernden Lächeln an.
Die Inquisition hatte auf der Plaza del Rey drei Tribünen aufgestellt. Sie befanden sich an der Mauer der Santa-Ágata-Kapelle, der Kirche des Königspalastes. Zwei dieser Gerüste, die beiden rechten, waren mit einem Baldachin bedeckt und mit wertvollen Stoffen geschmückt. Die mittlere war für die Inquisitoren und ihre Beamten bestimmt, die zweite war für die hohen Persönlichkeiten und ihre Bedienten da. Zwischen beiden stand ein kleiner Altar. Die linke Tribüne war hingegen ein einfaches Brettergerüst mit Bänken für die Angeklagten und die sie bewachenden Soldaten. Immer mehr Teilnehmer an der Prozession strömten herbei, und jeder begab sich an die Stelle, wo er hingehörte: Die einen setzten sich auf die Tribünen, die Zuschauer standen dicht gedrängt davor. Mitten auf dem Platz, gegenüber dem Gerüst der Inquisitoren, befand sich eine Kanzel. Dort stand der Augustinermönch, der die Predigt hielt.
Die Predigt dauerte länger als zwei Stunden, und die Stimme des Augustiners schwoll immer weiter an, je mehr er sich in seine Inbrunst hineinsteigerte. Er sagte, die Inquisition sei eine Tochter des christlichen Eifers, und der Läuterungsprozess habe begonnen. Er werde die Ketzer beseitigen, die die Welt verunreinigten. Er erinnerte an die Prophezeiungen des Johannes in der Apokalypse, als er schilderte, wie das Buch des Lebens und das des Todes geöffnet wurden. Mit Donnerstimme und glühendem Eifer trug er vor: »Und ich sah die Toten, die Großen und die Kleinen, vor dem Throne stehen, und Bücher wurden aufgeschlagen. Und noch ein Buch wurde aufgeschlagen, das ist das Buch des Lebens; und die Toten wurden gerichtet nach dem, was in den Büchern geschrieben stand, nach ihren Werken. Und wenn jemand nicht im Buch des Lebens gefunden
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