Am Horizont die Freiheit
der Gazelle bereitet ihm keine Lust. Seine Freude besteht darin, Nahrung zu finden, die ihn stark sein und weiterleben lässt. Der Löwe ist nicht roh oder grausam, er erfüllt nur Gottes Willen. Die Gazelle hat keine Klauen, um sich zu verteidigen. Wenn sie stirbt, um den Löwen zu ernähren, erfüllt auch sie Gottes Willen.«
Der Admiral verstummte und betrachtete weiter das Meer. Auch Joan sagte nichts und bemühte sich, sich von der Überraschung zu erholen, die ihm Vilamarí bereitet hatte. Was für eine Geschichte war das? Dem Jungen entging nicht der Doppelsinn dieser Erklärung. Der andere meinte Joans eigenen Vater und seine Familie, den Überfall auf sein Dorf. Wollte der Admiral ihn wirklich überzeugen?
Da dämmerte ihm, dass ihn dieser hochmütig und abweisend wirkende Mann um Verständnis, beinahe um Entschuldigung bat. Der Admiral musste Gewissensbisse haben, und um sie zu beschwichtigen, wollte er gerade ihn, sein Opfer, überzeugen.
»Wir Menschen sind keine Tiere, Herr Admiral«, entgegnete er nachdrücklich. Er blickte ihm ins Gesicht, wobei die Dunkelheit allerdings die Miene des anderen verbarg. »Gott hat uns gesagt, wir sollen einander lieben und keinem anderen etwas antun, wovon wir selbst nicht wollen, dass man es uns antut.«
Er schwieg in der Befürchtung, dass der Admiral seine letzten Worte als Drohung auffassen könnte. Er wollte ihn nicht alarmieren, vielmehr sollte ihm der andere weit genug vertrauen, damit er eine Gelegenheit hätte, sich zu rächen.
»Nein, Junge. Du irrst dich«, widersprach der Admiral, nachdem er sich seine Worte gründlich überlegt hatte. »Unter den Menschen gibt es viele Arten: Löwen, Gazellen und Lämmer. Und dasselbe göttliche Gesetz des Überlebens lässt sich auf Menschen anwenden. Wir, die auf dem Kampanjedeck fahren, und die Ruderknechte sind nicht gleich. Der Adlige wird nicht mit dem
Leibeigenen
gleich geboren. Der Leibeigene ist das Lamm, und der Adlige ist der Löwe. Er beschützt ihn als Gegenleistung für die Nahrung vor anderen Löwen.«
»Nun, Ihr müsst wissen, dass sich die
remensas
erhoben haben und dass einer von ihnen beinahe den König getötet hätte. War der etwa ein Lamm?«
»Ich kenne diese Geschichte genau. Joan von Canyamars war kein Lamm. Und du bist auch keines, Joan Serra von Llafranc. Darum schläfst du auf dem Kampanjedeck bei den Löwen und nicht bei den Lämmern, die auf der Galeere rudern.«
»Wie kann das sein, Herr Admiral?«, entgegnete Joan erregt. »Wie können wir Löwen sein, ohne dass wir als Adlige geboren wurden? Ist es nicht Gottes Wille, dass wir Lämmer sind, wenn wir von niedriger Herkunft sind?«
»Genau das unterscheidet uns Menschen von den Tieren«, antwortete der Admiral. »Die Tiere werden mit oder ohne Klauen geboren, und das können sie nie ändern. Sie werden Jäger oder Gejagte. Aber ich gebe zu, dass es zwei Arten des Adels gibt: den der Geburt und den des Herzens. Wer unter Lämmern geboren wurde, aber ein Löwenherz hat, verschafft sich Klauen. Es gibt sogar Fälle, dass durch diese Klauen, die beim Menschen die Waffen sind, arme Bürger zu Adligen aufgestiegen sind. Auch das ist Gottes Wille.«
Joan schwieg verwirrt. Der Admiral hatte seine Erklärung gut durchdacht. Trotzdem sah er seinen Vater vor sich, wie er mit einer Brustwunde nach hinten stürzte, und die Frauen auf dem Markt von Otranto, wie sie versuchten, sich ihre Blöße mit den Händen zu bedecken, und dabei vor Angst und Scham zitterten. Gott konnte so etwas nicht gutheißen.
»Auch du hast deine Klauen benutzt, um zu töten, Junge«, sprach Vilamarí weiter, weil Joan nichts sagte. »Du hast den Aufseher getötet, der deinen Vater erschossen hatte, und du warst beim Mord an Garau beteiligt, der ebenfalls bei der Expedition nach Llafranc dabei war. Du hast sogar einen sizilianischen Fischer getötet, der seine Familie beschützte. Dem hast du es zu verdanken, dass du jeden Tag essen kannst und bequem auf dem Kampanjedeck fährst, während andere an deiner Stelle rudern. Darum schläfst du bei den Löwen, weil du nämlich einer von ihnen bist. Und du isst mit dem gleichen Appetit wie sie, ohne dass es dir darauf ankommt, dass das Essen aus dem Sklavenverkauf stammt. Halte dich nicht mehr für ein Opfer und auch nicht für ein reineres Wesen, Joan Serra von Llafranc. Denn das bist du nicht.«
Vilamarí stand auf, ohne sich zu verabschieden. Kurze Zeit konnte Joan seine festen Schritte hören, die die Planken des Mittelgangs
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