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Am Horizont die Freiheit

Am Horizont die Freiheit

Titel: Am Horizont die Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorge Molist
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einen angespannten Eindruck machte. Blitzschnell begegneten sich ihre Blicke, und das Lächeln verschwand aus Annas Gesicht. Vor Angst spürte Joan einen stechenden Schmerz. Bei der Tür zwängten sich die Leute zusammen, um durch die schmale Öffnung zu kommen, und Joan stellte sich genau hinter Anna. In diesem Moment begrüßte jemand den Ehemann, und Joan näherte seine Lippen dem Ohr seiner Liebsten, berührte ihre Schulter und flüsterte: »Ich liebe Euch. Antwortet auf den Brief, den ich in der Buchhandlung hinterlassen habe. Ich flehe Euch an.«
    Er spürte, wie sie zusammenzuckte. Er trat beiseite und gab acht, dass der Ehemann und die Leute ringsum nichts bemerkten. Er ließ einen Abstand, damit sich andere zwischen sie schoben, und folgte dem Paar. Anna hatte wieder ihren Mund mit dem Mantillenende bedeckt. Einmal nutzte sie die Gelegenheit, als ihr Ehemann einen Bekannten begrüßte, und drehte sich um. Ihre Blicke begegneten sich wieder. Joan glaubte zu sterben. So verzweifelt, so ungestüm liebte er diese Frau – sie wiederzusehen war eine grenzenlose Freude und eine Qual zugleich. Er blieb reglos mitten auf der Straße stehen, und als die Luccas weitergingen, folgte er ihnen in vorsichtigem Abstand bis zu ihrem Haus.

87
    W enn Joan nicht an Bord blieb, besuchte er regelmäßig die Buchhandlung Antonellos, der bereits wie ein Freund für ihn war. Hinter dem heiteren Auftreten des Buchhändlers verbarg sich ein Gelehrter, der Bücher mit ungewöhnlicher Inbrunst verehrte und seine Freude an der Philosophie und der Theologie fand. Auch Joan teilte diese Leidenschaft. Beide plauderten lange und ausführlich über Bücher, und wenn Antonello beschäftigt war, setzte sich Joan hin und las. Dieser Ort war ein Paradies für ihn, und die umfangreiche Buchauswahl des Neapolitaners bei Handschriften wie bei Druckwerken war unerschöpflich. Joan bekam die Hoffnung, dass sich sein alter Traum, Buchhändler zu werden, möglicherweise verwirklichen ließ.
    Das Lesen vermochte es als Einziges, ihn seine Betrübnis über Annas Fernsein vergessen zu lassen. Doch wenn er mit der feinfühligen Zärtlichkeit eines Verliebten ein Buch schloss, um es wegzustellen, meldete sich seine Sorge erneut. Er fragte sich immer wieder erregt, warum sie nicht auf den Brief antwortete, den er im August bei Antonello hinterlassen hatte. Der Gedanke, dass sie ihn nicht mehr liebte, erschreckte ihn.
    Stundenlang wartete er nahe beim Palast Riccardo Luccas in der Hoffnung, Anna zu sehen. Es war ein geräumiges Haus, das aus dem Erdgeschoss und zwei Stockwerken bestand. Es verfügte über ein großes Eingangsportal und einen Innenhof für Fuhrwerke. Alle Fenster hatten Gitter, außer einigen im ersten und zweiten Stock, die mit Jalousien bedeckt waren, damit die Damen auf die Straße sehen konnten, ohne gesehen zu werden.
    Anna ging selten aus, und dies immer in Begleitung ihrer Haushälterin. Wenn sie sich begegneten, ließ sie sich nichts anmerken und schenkte ihm höchstens einen kurzen Blick.
    Nachdem er von einem längeren Auftrag der
Santa Eulalia
zurückgekehrt war, der ihn vier Tage auf dem Schiff festgehalten hatte, stellte Joan fest, dass Antonello fröhlicher war als sonst.
    »Ich habe etwas für dich«, sagte er augenzwinkernd.
    »Was?«, fragte Joan hoffnungsvoll.
    »
Signora
Anna hat die Buchhandlung besucht.«
    »Was?«, rief Joan. »Hat sie Euch etwas gegeben?«
    Lächelnd zeigte ihm Antonello einen kleinen zusammengefalteten Brief, der mit rotem Lack versiegelt war.
    Mit einer jähen Bewegung entriss er ihm das Papier. Voller Ungeduld trat er ans helle Fenster und verbarg den Brief mit seinem Körper vor dem Buchhändler, der neugierig versuchte, ihm über die Schulter zu blicken. Nachdem er das Siegel aufgebrochen hatte, begann er zu lesen:
    Mein lieber Joan! Die süße Erinnerung an Euch begleitet mich Tag für Tag. Ich liebe Euch weiterhin und werde es immer tun. Aber ich bin eine verheiratete Frau, und meine Ehe darf nicht gebrochen werden. Darum bitte ich Euch, dass Ihr mich vergesst. Ich bete zum Herrgott, dass er Euch beschützen und helfen möge, eine Frau zu finden, die Euch liebt und die Ihr liebt. Wolle Gott, dass wenigstens Ihr das Glück findet.
    Eure traurige Liebste.
    Anna
    Der junge Mann fühlte, wie es ihm das Herz zerriss. Das war ein Abschiedsbrief.
    Als Antonello seine Miene sah, erkundigte er sich besorgt: »Was gibt es?«
    Joan hielt ihm den Brief hin.
    »Sie sagt Euch, dass sie Euch liebt und Euch

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