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Am Horizont die Freiheit

Am Horizont die Freiheit

Titel: Am Horizont die Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorge Molist
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Persönlichkeit und nähert sich Gott.«
    Der Junge hörte ihm staunend zu und fragte sich, was mit den Leuten geschah, die nicht schreiben konnten. Er zweifelte nicht an den Worten seines Meisters, obwohl seine Gedanken manchmal über sie hinausgingen und ihnen vorauseilten.
    »Aber, Meister Abdalá, glaubt Ihr nicht, wenn der Schreiber seine Schrift auf dem Papier hinterlassen hat, dass diese ein Eigenleben erwirbt?«
    Und er erklärte ihm, was er in den Buchstaben sah. Er verstand nicht, was die Wörter bedeuteten, die sie bildeten, doch zu ihm sprachen sie trotzdem.
    Abdalá lachte, und Joan sagte sich, dass er falsch gehandelt hatte, als er ihm sein Geheimnis erzählte.
    »Gott segne dich, Joan«, erklärte nun der andere. »Auch zu mir sprachen die Buchstaben, als ich ein Kind war. Obwohl sie ganz anders waren. Sieh her.«
    Er nahm eine Kanüle, so etwas wie ein spitz zulaufendes Rohr, und malte ein paar Zeichen von rechts nach links, in entgegengesetzter Richtung zu der Schrift, die Joan erlernt hatte. Es waren lange Striche und Kurven mit einer unbekannten, aber harmonischen Ästhetik.
    »Was ist das?«, fragte Joan bewundernd.
    »Das ist arabische Schrift«, antwortete er. »Sie stellt einen Satz dar, der ›Basmala‹ heißt, und er bedeutet: ›Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen.‹«
    »Das alles bedeutet er?«
    »Ja, Joan. Auch mir haben die Buchstaben etwas mitgeteilt, wie es jetzt dir geschieht. Sie erzählten mir etwas von dem, der es geschrieben hatte, und von mir selbst. Sie waren wie die Himmelswesen, die dir dein Vater gezeigt hat. Das war dieser schöpferische Funke, der aus der Phantasie kommt, dieses Etwas, das Gott dem Menschen gegeben hat und das ihn vom Tier unterscheidet. Danach verlieren wir im Lauf der Zeit einen Teil dieser Unbefangenheit … Bewahre sie, solange du kannst, Joan.«
    Der Junge starrte seinen Meister verblüfft an. Abdalá legte ihm die Hand auf die Schulter, und seine blauen Augen blickten ihn fest an. Seine feierliche Miene beeindruckte Joan so sehr, dass er den Atem anhielt.
    »Hör genau zu, Junge«, sagte er in sanftem, aber nachdrücklichem Ton. »Vielleicht verstehst du mich jetzt nicht ganz, aber du sollst den letzten Sinn von dem erfahren, was wir tun, seine tiefe Bedeutung.
    Die Kaufleute haben die Zahlen erfunden, um das Vieh zu zählen. Die Priester haben die Buchstaben erfunden, um von Gott zu reden. Darum ist die Schrift heilig. Die göttliche Offenbarung verwandelte sich in Zeichen, damit man sie von Generation zu Generation weitergeben und in heiligen Büchern festhalten konnte. So entstand die Schrift, die die Kunst der Priester ist. Und wenn ich mich bemühe, vollkommene Buchstaben zu zeichnen, bete ich und versuche, meine Laster zu bezwingen. Ich rede mit dem Herrn, und Er redet zu mir.«
    Joan hörte ihm mit offenem Mund zu. Von so etwas hatte er nie etwas geahnt.
    »Das Johannesevangelium beginnt mit dem Satz: ›Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.‹ Die ersten Bücher waren genau das: Sie hielten Gottes Wort in etwas Beständigem fest, damit sich der Mensch immer daran erinnerte. Darum stellte man den Christengott im Altertum mit einem Buch in der Hand dar, und darum gebietet unser Prophet Mohammed, die Religionen des ›Buches‹ zu achten, das heißt die Christen und Hebräer, die an die Bibel glauben. Uns Muslimen ist es verboten, Gott als Bild darzustellen. Doch wir tun es durch sein Wort. Deshalb entwickeln wir viele Arten von Kalligraphien, um den Herrn zu ehren und dem Göttlichen möglichst nahezukommen. Die Kunst der Buchstaben ist die Kunst des Betenden, dessen, der das Höchste Wesen sucht.«
    Joan gab sich Mühe, das alles zu begreifen, obwohl er wusste, dass er das nicht konnte. Er war überwältigt und eingeschüchtert.
    »Ein Engel gebot unserem Propheten Mohammed: ›Lies‹, und als er sagte, das könne er nicht, beharrte er: ›Lies im Namen deines Herrn, der den Menschen geschaffen hat‹«, schloss Abdalá.
    Das verstand Joan sofort.
    »Warum darf ich dann nicht lesen lernen?«
    Abdalá blickte ihn überrascht an. Als hätte er nicht gerade zu Joan gesprochen, als wüsste er nicht, dass der Junge da war und ihm in die Augen sah, als kehrte er aus einer weit entfernten, heiligen Welt zurück. Der Alte blinzelte und schien aufzuwachen. Dann lachte er laut. Joan sah ihn unwillig an.
    »Du bist wirklich starrsinnig, Joan«, sagte er ihm schließlich. »Einverstanden, du hast mich

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