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Am Horizont die Freiheit

Am Horizont die Freiheit

Titel: Am Horizont die Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorge Molist
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nicht.
    Die Gemeinschaft entdeckte zur Zeit des Abendessens, dass der Mönch verschwunden war. Man suchte zunächst im Kloster nach ihm, dann in der Umgebung, und dort fanden sie seinen bewusstlosen Körper. Er war zum allgemeinen Erstaunen noch am Leben. Die Gemeinschaft betete für ihn, Joan wie jeder andere. Und das Wunder geschah. Erst nach ein paar Tagen kam er wieder zu Bewusstsein, konnte jedoch immer noch nicht reden. Schließlich sagte er, dass er sich an nichts erinnere, dass er seine Angreifer nicht gesehen habe. Man musste monatelang warten, bis er gehen konnte, und niemals erholte er sich ganz. Dennoch betete er mehr als je zuvor. Joan sagte sich, dass die Wege des Herrn geheimnisvoll waren. Er hatte sich eines Kindes mit einem Engelsgesicht und eines Teufels wie Felip bedient, um den Mönch auf den rechten Weg zu bringen. Sein teilnahmsloser und stumpfsinniger Zustand entfernte ihn endgültig von den Kindern und erlöste ihn von seiner Pein.

29
    D ie am innigsten herbeigesehnte Zeit des Tages war die, wenn er zum Brunnen ging. Zwei Ecken zuvor schlug sein Herz bereits wild, und er lief schneller. Er wollte sie sehen, unbedingt, und wenn er sie nicht entdeckte, kehrte er trübselig in die Werkstatt zurück. Wenn sie auftauchte, während Joan in der Schlange wartete, überließ er ihr seinen Platz. In den ersten Tagen nahm sie lächelnd an, dann aber lehnte sie kopfschüttelnd ab, obwohl sie ihr Lächeln beibehielt. Dann verließ Joan seinen Platz und stellte sich hinter sie. Er bemühte sich, seine Schüchternheit zu überwinden und sagte ihr etwas über das Wetter oder über ein Ereignis des Tages. Am Anfang klang seine Stimme erstickt, als hielte ihn eine große Hand an der Kehle gepackt. Sie hingegen antwortete ruhig und lächelnd. Sie füllte ihren Krug und verabschiedete sich mit der für sie eigentümlichen Handbewegung. Joan kehrte mit freudig beschwingtem Herzen an die Arbeit zurück, und dann dachte er an sie und sehnte sich im Voraus nach ihrer nächsten Begegnung. Er wusste schon ihren Namen: Anna. Wie jener der Schutzheiligen des Klosters.
    Anna war die einzige Frau in Joans Welt. Im Kloster waren die Frauen nur Bilder auf dem Altar, und in Felips Bande hatten sie auch nichts zu suchen. Señora Corró war wie eine Mutter für ihn, und auch die Mägde waren alle viel älter. Auf den Straßen sah er andere Mädchen, doch er achtete kaum auf sie. Anna verkörperte alles Weibliche. Ihre Gesten, ihre besonderen Blicke, diese zierlichen, ihr so eigentümlichen Bewegungen. Sie war sein Geheimnis.
    Die Erinnerungen an Elisenda verschwanden in immer weiterer Ferne und wurden immer lästiger. Eines Tages kniete er in der Kirche nieder und betete für sie.
    »Es tut mir leid«, murmelte er schließlich zum Abschied. »Aber ich liebe nun einmal Anna.«
    Das Leben in der Werkstatt nahm seinen normalen Lauf. Felip zeigte sich ungerührt, als er erfuhr, dass Bruder Nicolau überlebt hatte. Er hatte seine Bandenmitglieder dermaßen in der Hand, dass er sicher war, von keinem verraten zu werden. Nach dem, was in der Gasse geschehen war, behandelte er Joan wieder mit Geringschätzung, obwohl der Junge an den Schlachten seiner Bande teilnahm. Joan freute sich, dass er die meiste Zeit im oberen Stockwerk arbeitete und ihn wenig sah.
    Abdalá hingegen bewies, dass er ein geduldiger und liebevoller Lehrmeister war. Das milderte nicht seine Strenge, und er prüfte die Arbeit des Jungen mit kritischen Augen. Wenn ein Buchstabe schlechter war, als es Abdalá von Joan erwartete, schlug er ihm mit einem langen und spitzen Metallstab auf die linke Hand – die, die das Messer hielt. Nie traf er die rechte, weil er vermeiden wollte, dass Tinte aus der Feder austrat. Diese Schläge schadeten Joan nicht körperlich, doch sie kränkten ihn.
    »Achte auf deine Schrift, kontrolliere ihre Striche, und du wirst deine Leidenschaften bezwingen«, sagte der Muslim immer wieder. »Die Kalligraphie ist einer der mystischen Wege zum Herrn. Augen und Hände sind die genauesten Werkzeuge, die der Mensch, die Krone der göttlichen Schöpfung, besitzt. Wenn du die Neigung zum Groben, Nachlässigen und Schwerfälligen in der Schrift überwinden kannst, wirst du deine Laster und deine Sünden beherrschen und ein besserer Mensch werden. Die Kalligraphie gibt dem Menschen Auskunft über sich selbst. Wenn du seinen Buchstaben siehst, kannst du wissen, wie er ist. Sobald der Mensch seine Schrift verbessert, bessert er sich auch als

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