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Am Meer ist es wärmer

Titel: Am Meer ist es wärmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hiromi Kawakami
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die er zurückgelassen hatte.
    »Du, Seiji?«, sagte ich am Telefon. Wenn ich ihn am Telefon mit seinem Namen ansprach, fühlte ich mich ihm näher, als wenn er direkt vor mir stand. Vielleicht weil alle anderen Wahrnehmungen außer der akustischen ausgeschlossen sind.
    »Was ist denn?«
    »Glaubst du, wir werden uns eines Tages trennen?«
    »Du stellst ja Fragen«, sagte er. »Willst du dich denn von mir trennen?«
    »Nein, ich habe nur wieder daran gedacht.«
    Seiji weiß, dass ich Rei meine, wenn ich sage, »ich habe wieder daran gedacht«. Ich bin eine scheußliche Frau. Finde ich selbst.
    Seiji ist immer liebenswürdig und gütig. Er sagt nur gütige Sachen. Deshalb macht er mir Angst. Aber meine Angst vor ihm ist anders als meine Angst vor Rei.
    »Wo würdest du dich mit jemandem verabreden, so gegen 21 Uhr?«, fragte ich ihn.
    »Tja, also, die Cafés machen um die Zeit allmählich zu. Dann vielleicht im Foyer oder in der Lounge eines Hotels? Oder in einer Kneipe?« Seiji gab sich Mühe.
    Ich wusste ja gar nicht, ob die Zahl 21.00 überhaupt eine Verabredung zu dieser Uhrzeit bedeutete. Dennoch klammerte ich mich an diesen Gedanken, der stets in eine Sackgasse mündete.
    »Übrigens habe ich heute Abend um 21 Uhr auch eine Verabredung«, sagte Seiji.
    »Ach?«
    »Mit einem jüngeren Kollegen in einer Hotelbar.«
    »Pass gut auf dich auf«, sagte ich. Seiji lachte. Lautlos, wie immer, aber ich spürte, wie die Luft um seinen Mund sich ausdehnte.
    Ob es Reis Verschwinden verhindert hätte, wenn ich ihm gesagt hätte, er solle auf sich aufpassen? Auch dieser Gedanke führte zu nichts. Ich streckte mich und drängte meine Sehnsucht zurück. Rasch fragte ich Seiji, wann wir uns Wiedersehen würden.
    »Ich bin gerade furchtbar beschäftigt, sagte er, deshalb wird es diesen Monat wohl nichts mehr mit einem Treffen. Tut mir leid.«
    »Verstehe ich doch«, antwortete ich ruhig.
    Seiji lachte wieder. »Du bist ja so fügsam heute.«
    Die Worte »es wird nichts mehr« hatten mir einen Stich versetzt. Nicht, dass ich mich sehr nach ihm sehnte, es tat mir einfach weh.
    Es war nicht nur der Zettel.
    Ich hatte auch Reis Tagebuch. Es stand noch immer neben den Wörterbüchern im Bücherregal. Etwa einmal im Monat nahm ich es hervor.
    Die Eintragungen waren rein sachlich: ein Päckchen Rasierklingen. Abends Restaurant Tongen. Takamatsu. Kawahara. Einladung Abteilungsleiter. Spielzeugpferd für Momo. Solche Sachen eben, ganz nüchtern. Worte ohne Gefühlswert, dennoch versetzte es mir einen Stich, sooft ich sie las. Allein die aneinander gereihten Zeichen griffen mich an.
    Ich hatte nicht gewusst, dass Rei ein Tagebuch führte. Als ich es entdeckte, durchforstete ich es gründlich nach einem Schlüssel zu seinem Verschwinden - vielleicht eine Frauengeschichte oder finanzielle Schwierigkeiten? Erfolglos.
    Eine Weile war ich verstört. Nicht, weil ich nichts gefunden hatte, sondern weil ich in Reis Leben herumgeschnüffelt hatte. Es fiel mir schwer, Einträge wie den Preis der Hähnchen-Ei-Reisschale, die er zu Mittag gegessen hatte, die Nummer einer alten Zeitschriftenausgabe oder dienstliche Notizen »Liefertermin 5 Tage früher, Besprechung morgen«, mit meinem Mann Rei, der bis vor kurzem mit mir zusammengelebt hatte, in Verbindung zu bringen.
    Eine Zeitlang versteckte ich das Buch ganz hinten im Regal, damit ich es nicht sehen musste. Keine Sekunde hatte ich mich Rei fremd gefühlt, aber seit dem Augenblick, in dem ich sein Tagebuch gelesen hatte, wurde er es. Auf einmal konnte ich mich nicht mehr an sein Gesicht erinnern. Weder an seinen Geruch noch daran, wie seine Haut sich angefühlt hatte, oder an seine Stimme.
    Nicht, weil er nicht mehr da war. Sondern weil ich beim Lesen des Tagesbuchs alles darin nicht mit meinen eigenen Augen, sondern mit Reis Augen betrachtet hatte. Wie ekelhaft war es doch, Dinge mit dem Blick eines anderen zu betrachten. Nun schmerzte es mich, wenn ich die Zeichen in seinem Tagebuch ansah. Es tat weh. Sehr. Ich hasste ihn. Rei. Er war anders als ich. Er war mir fern.
    Doch in Wirklichkeit hatte ich ja gewusst, dass er mir fern war. Dennoch erschrickt man, wenn es so deutlich wird. Die Gefühle geraten in Aufruhr, man zuckt zurück, als hätte man ins Feuer gegriffen.
    Nach einer Zeit stellte ich das Tagebuch wieder vorne ins Regal, wo die Bücher standen, die ich öfter zur Hand nahm. Rei, dieser Idiot, sagte ich manchmal. Es fiel mir ganz leicht, es zu sagen.
    Einmal, als ich es sagte,

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