Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Am Meer ist es wärmer

Titel: Am Meer ist es wärmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hiromi Kawakami
Vom Netzwerk:
beobachtete Momo mich verstohlen. Von hinten.
    Wie erstarrt stand ich mit dem geöffneten Tagebuch in der Hand da, und Momo verließ sofort den Raum. Nicht feindselig, aber die Atmosphäre war dicht und anklagend geworden. Von hinten.
    Ich beneidete Momo um die Möglichkeit, jemandem die Schuld zu geben. Auch ich hätte das gern getan, aber mir fehlte ein Angriffziel. Also blieb mir nichts anderes übrig, als sinnlos mit den Armen zu fuchteln.
    Die Bäume blühten, und die Luft duftete.
    Seiji hatte keine Zeit, und Momo war beschäftigt, seit sie auf die Höhere Schule ging. Also machte ich mich alleine auf den Weg zur Universität. Das Wetter war schön, und ich fühlte mich wohl. Ich ging zu dem Teich an den Tennisplätzen und setzte mich auf den Rasen. Aus den drei überlebenden Kaulquappen waren Frösche geworden. Einige Tage zuvor hatten Momo und ich sie am Teich ausgesetzt. Reglos hatten die kleinen grünen Wesen einen Moment lang im Gras gehockt, dann waren sie davongehüpft und im Gebüsch verschwunden.
    An diesem schönen Tag hatte die Gestalt, die mich verfolgte, etwas Leuchtendes. Der Teich kräuselte sich. Ich öffnete den Dosentee, den ich mir unterwegs gekauft hatte, und trank. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie durstig ich war. Diesmal war es ein Mann, der mir folgte. Beim Trinken überlegte ich, ob ich ihn vielleicht von früher kannte.
    Ich nahm Reis Tagebuch aus meiner Tasche, schlug es auf und riss willkürlich eine Seite heraus. Wie jedes Jahr. Eines Tages werde ich alle Seiten herausgerissen haben. Aus dem Blatt faltete ich ein Flugzeug. Ich wollte es über den Teich segeln und darin versinken lassen.
    Beim Falten berührten meine Finger die Zeichen, die Rei geschrieben hatte. Zu meinem Erstaunen entdeckte ich unter dem mit dickem schwarzem Füller geschriebenen Eintrag »20 Briefmarken zu je 62 Yen. Saitō-AG, erledigt« das Wort Manazuru . Ich faltete das Blatt auseinander, um mich zu vergewissern. Mein Mann hatte es etwa einen Monat vor seinem Verschwinden mit einem feinen Kugelschreiber geschrieben.
    Ich faltete das Blatt zweimal und legte es in das Tagebuch zurück. Manazuru, sagte ich leise. Ich hatte es nie bemerkt. Oder vergessen. Manazuru, murmelte ich noch einmal. Der Teich glitzerte. Auch mein Verfolger funkelte im Licht. Der Wind frischte auf. Das Rauschen der Blätter erfüllte die Luft. Es war so gleißend hell, dass ich nichts mehr sehen konnte.

3
    Ich sah eine Kamelienblüte fallen.
    Ich hatte schon einzelne rote Blütenblätter fallen sehen wie Tropfen. Auch ganze Blüten auf dem Boden, aber noch nie hatte ich eine ganze Blüte im Fall beobachtet.
    »Sieh mal...«, sagte ich zu Rei, der neben mir ging, und er schaute sofort hin.
    »Sie ist abgefallen«, sagte er und hob die Kamelienblüte auf, die unbeschadet auf der Erde lag, als sei sie gerade erst erblüht.
    Wortlos zerdrückte er sie mit den Fingern. Die großen Blütenblätter fielen zu Boden. Blatt für Blatt aus seiner geballten Hand. Zum Schluss blieb nur noch das gelbe Blüteninnere. Auch das zerquetschte er.
    »Der Blütenstaub ist klebrig«, sagte er, als er die Hand öffnete. Der zerquetschte Stempel, der Blütenkelch und die noch übrigen kleineren Blätter segelten etwas langsamer zu Boden als die großen.
    »Schade«, sagte ich.
    Er sah mich fragend an.
    »Warum?«
    »Du hast sie zerstört.«
    »Aber sie zerfällt doch sowieso.«
    Damals kannten wir uns noch nicht lange. Ein gefühlloser Mensch, dachte ich. Rei - ich sagte seinen Namen. Für gewöhnlich gelang mir das nicht so leicht, aber diesmal kam er mir ganz glatt über die Lippen.
    Kei - erwiderte er. Seine Finger, mit denen er die Kamelienblüte malträtiert hatte, drangen in meinen Mund. Sie rochen süß und schwer nach dem Blütenkelch, und irgendwann fing ich an, daran zu saugen. An seinen Fingern.
    Als ich Momo stillte, dachte ich mitunter daran, wie sich seine Finger angefühlt hatten. Wie ein Baby hatte ich daran gesaugt. Damals war mir das nicht bewusst gewesen, erst nachdem ich begonnen hatte zu stillen. Wie in Trance und ohne etwas zu denken, saugte ich mit einem bitter-süßen Gefühl an seinen Fingern.
    Rei übte einen Sog aus wie die Ebbe.
    So sehr ich mich dagegen stemmte, ich wurde mitgerissen.
    Rei trug mich einfach fort. Er war ein Meister der Überrumpelung. Kaum dachte ich, alles liefe glatt, geriet ich unversehens ins Stolpern. Nicht einmal zwei Monate, nachdem wir uns kennengelernt hatten, konnte ich an nichts anderes mehr denken als an

Weitere Kostenlose Bücher