Am Meer ist es wärmer
Stimmung verderben, dachte ich. Ob einer ankommt oder abfährt, die Geschwindigkeit ist doch die gleiche, woher willst du das also wissen, hätte ich gerne gesagt. Ich verspürte den Drang, etwas kaputt zu machen, das ohnehin zerbrechen würde.
»Ich habe Hunger«, sagte ich mit absichtlich fester Stimme. Seiji lachte. Mit seinem Lachen verscheuchte er meinen Zerstörungsdrang.
»Ich würde gern etwas Warmes essen.« Ich konnte mich wieder bewegen und setzte mich auf. Ich strich mit dem Finger über Seijis Rücken. Er blieb ruhig ausgestreckt liegen, aber seine Schultern zuckten ein wenig. Fühlt sich das gut an? fragte ich. Es kitzelt, antwortete er.
Nachdem ich mich gestreckt hatte, berührte ich Seiji noch einmal. Mein Finger hinterließ einen leichten Abdruck. Das Meeresrauschen wurde lauter.
Nach dem Essen verabschiedeten wir uns.
Auf dem Heimweg fühle ich mich immer leicht. Leicht und frisch, ganz gleich, ob es Tag ist oder Nacht, Winter oder Sommer.
Als ich an einer Ampel vor dem Bahnhof wartete, sah ich, wie ein Mann die Straße bei Rot überquerte. Er trug einen Hut. Ohne nach links oder rechts zu schauen, eilte er auf die andere Seite.
Achtung!, entfuhr es mir unwillkürlich. Ein weißer Wagen näherte sich mit einiger Geschwindigkeit. Der Mann ging ungerührt weiter, ohne seine Schritte zu beschleunigen oder zu verlangsamen.
Mein Herz hämmerte. Normalerweise vergaß ich, dass ich ein Herz hatte, aber nach dem Schreck machte es sich bemerkbar. Der Mann war in einer Seitenstraße verschwunden. Es wurde grün, und alle Passanten strömten auf einmal über die Straße. Neben mir ging eine Frau. Sie war so groß wie ich, kräftig gebaut, mit kurzem Haar. Langsam stapfte sie über die Straße.
Das Herzklopfen brachte mir meinen Körper stärker ins Bewusstsein. Wie ich meine Beine bewegte. Die Frau und ich gingen im Gleichschritt. Nicht nur die Frau, alle, die die Straße überquerten, gingen im Gleichschritt. Unheimlich.
Bei aller Leichtigkeit und Frische drohte ich in einen seltsamen Zustand zu verfallen.
Um mich abzulenken, dachte ich an Seiji. Vielleicht würde ich dieses Gefühl vergessen. Seiji hatte eine Schwiele vom Bleistift. Am oberen Gelenk seines rechten Mittelfingers. Neuerdings schreibt man nicht mehr so viel mit Bleistift, oder?, sagte ich irgendwann. Seiji schüttelte den Kopf. Ich schon, sagte er. Ich benutze Bleistifte statt Kugelschreiber.
Seiji und ich hatten beide mit Schriftstellerei zu tun - ich schrieb, Seiji ließ schreiben.
Zu Anfang unserer Bekanntschaft hatten wir öfter zusammengearbeitet. Ich schrieb damals jede Woche einen kurzen Essay. Seiji hatte eine eigene Art, andere Menschen zu loben. Es klang nie direkt wie ein Lob, auch wenn es eins war. Schließlich wurden meine Essays in einem Buch veröffentlicht, und ich bekam weitere Aufträge, mit denen ich Momo und mich über Wasser halten konnte.
Im Gedanken versunken kam ich vor unserem Haus an. Ich blieb kurz im Licht der Straßenlaterne stehen. Am Bahnhof waren viele Menschen unterwegs gewesen, aber inzwischen war ich allein. Wohin waren all die anderen gegangen?
Nachdem wir das Hotel verlassen hatten, sagte Seiji, er würde wieder ins Büro gehen. Während er das Taxi heranwinkte und einstieg, erschien sein Rücken mir fremd. Solche Momente gab es immer wieder.
Bei Rei hatte ich dieses Gefühl von Fremdheit nie verspürt. Ich sah ihn noch immer genau vor mir, sein Gesicht, seinen Körper, alles. Die Straßenbeleuchtung war schwach. Ich trat aus ihrem Lichtkegel und drückte sachte das Tor auf.
»Diesmal kann ich meine Medikamente nicht reduzieren«, sagte meine Mutter beunruhigt.
Sie musste morgens und abends etwas gegen ihren hohen Bluthochdruck einnehmen. Da er im Winter meist etwas stieg, brauchte sie in dieser Zeit die doppelte Dosis. Im Frühling konnte sie sie normalerweise wieder heruntersetzen.
»Vielleicht liegt es daran, dass jetzt dieser junge Arzt die Praxis hat. Er geht nur nach Werten und Zahlen. Mein alter Arzt hat alle möglichen Faktoren beachtet«, fuhr meine Mutter fort. Sie streckte sich. Sie klang zwar besorgt, aber es war zu merken, dass sie sich auf den Frühling freute. Kraftvoll und bis in die Fingerspitzen streckte sie die Arme aus.
»Bestimmt kannst du bald wieder deine normale Dosis nehmen«, sagte ich. Meine Mutter nickte. »Ich habe Kaulquappen gesehen«, verkündete sie unvermittelt.
»Wo denn?«
Meine Mutter lachte. »Ich war mit Momo am Teich bei der Universität. Am
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