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Am Meer ist es wärmer

Titel: Am Meer ist es wärmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hiromi Kawakami
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alles zugeschüttet, und der Geruch verschwand.
    »Und trotzdem riecht es nach fauligem Wasser.«
    Vielleicht hat der Wind den Geruch vom Fluss hergeweht, sagte ich. Meine Mutter schloss die Augen. Sie holte tief Luft. Du meinst, von dem Fluss im Nachbarort? Von dort bis hierher?
    Außerdem, murmelte sie, haben wir schon seit Jahren keine richtige Regenzeit mehr gehabt. Inzwischen regnet es im Frühling - Rapsregen haben wir das früher genannt - mehr als in der richtigen Regenzeit.
    Ich schnupperte. Hin und wieder roch es stark nach Wasser. Das kam häufig vor, wenn es mehrere Tage geregnet hatte und anschließend heiß und trocken wurde. Keine richtige Regenzeit, Rapsregen, wiederholte ich im Geiste. Das weiche Körpergefühl, fast als würde ich zerfließen, das ich in meiner Jugend immer zu Beginn des Sommers gehabt hatte, ließ von Jahr zu Jahr nach. Zu der Zeit, als ich öfter bei Rei übernachtete, hatte ich es nicht nur am Ende der Regenzeit. Es stellte sich sogar ein, wenn ich es zu unterdrücken versuchte. Auch nach unserer Hochzeit und Momos Geburt spürte ich dieses Zerfließen. Es ging nicht nur von dieser gewissen weichen und verborgenen Stelle aus, sondern sickerte - so empfand ich es - auch hinter den Augenlidern hervor. Wenn ich den Duft des beginnenden Sommers einsog, schwanden mir für einen Moment die Sinne. Das ist bis heute so geblieben.
    Ich las Reis Tagebuch noch einmal gründlich durch. Das Blatt, auf dem »Manazuru« stand, faltete ich zusammen und legte es zwischen die letzten Seiten. Es gab nichts Neues. Es stand das Gleiche da, wie vorher. Ich las immer das Gleiche.
    Ich wusste nicht mehr, wie es gewesen war, als ich Rei gesagt hatte, ich sei schwanger.
    Aber er hatte es in seinem Tagebuch festgehalten.
    »Ein Kind. Nächstes Jahr im April. Kei sah aus wie ein Fisch, als sie es mir sagte.« Ausnahmsweise hatte er eine persönliche Bemerkung hinzugefügt.
    Wieso hatte ich ausgesehen wie ein Fisch? Als ich den Satz das erste Mal las, musste ich lachen, obwohl mir damals - kurz nach Reis Verschwinden - nicht danach zumute war.
    Ich litt unter starken Schwangerschaftsbeschwerden. Kaum zwei Wochen nach der Empfängnis fühlte ich mich wie zerschlagen. Eigentlich dauert es länger, bis man sich einer Schwangerschaft sicher ist. Aber ich wusste sofort, dass ein Fremdkörper sich in mir eingenistet hatte. Obwohl »Fremdkörper« vielleicht zu viel gesagt ist, es klingt zu eindeutig. Es war eher wie ein vorübergehender Besuch.
    Es überraschte mich, dass ein Wesen, nicht größer als die Spitze meines kleinen Fingers, so fürchterliche Symptome hervorzurufen vermochte. Dass ich aussah wie ein Fisch, lag gewiss an meiner Übelkeit.
    Im Tagebuch gab es eine weitere persönliche Bemerkung.
    »Ein Ort, an dem ich eigentlich nicht sein sollte«, hatte Rei etwa ein Jahr vor seinem Verschwinden notiert. Ein Ort, an dem er eigentlich nicht sein sollte. Wo mein Mann wohl war, als er diese Empfindung hatte? »Versprechen gebrochen« hatte er am gleichen Tag noch darunter eingetragen.
    Ob die Worte eine tiefere Bedeutung hatten oder nicht, ließ sich nicht erkennen. Ich konnte die Stelle lesen, so oft ich wollte. Insgesamt war das Tagebuch überhaupt nicht rätselhaft, nur dieser Tag barg ein Geheimnis.
    Meine Beschwerden dauerten etwa zwei Monate an. Dann hörten sie plötzlich auf, und mein Befinden war stabil. Ich empfand den zu einem Kind heranwachsenden Embryo nicht mehr als Fremdkörper. Auf einmal hatte ich Lust auf fette Speisen und wahrscheinlich inzwischen größere Ähnlichkeit mit einem haarigen Tier als mit einem Fisch.
    Während der ganzen Zeit, in der das Baby, das nun kein Fremdkörper mehr war, in mir wuchs, fühlte ich mich benommen. Ich konnte nicht denken. Aber einfache Arbeiten verrichtete ich mit großer Emsigkeit. So fertigte ich eine Menge Windeln an, indem ich Mullstücke aufeinandernähte. Eine geisttötende Beschäftigung, zu der mich heute nichts mehr bewegen könnte.
    Ich hatte keine Erinnerung daran, was Rei damals tat oder dachte. Es war, als wäre ich in einem Kokon eingeschlossen und wollte die äußere Welt nicht wahrnehmen, oder besser gesagt, ich konnte es nicht, selbst wenn ich es gewollt hätte.
    Allerdings ist das nicht bei allen Schwangeren so. Ich hielt mich für unheimlich verletzlich, war es aber nicht. Im Grunde war wahrscheinlich sogar das Gegenteil der Fall. Rei funktionierte ganz anders. Er wirkte gelassen, war es aber nicht. Er war noch zerbrechlicher als

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