Am Meer ist es wärmer
ganz nah an ihres heran. Sie wich zurück und drehte sich weg. Ich fragte mich, ob sie verschwinden würde, aber sie blieb. Sie verstummte lediglich.
Als ich mit dem Frühstück fertig war, hatte der Dunst sich verdichtet.
Ich hörte die Frau weinen.
Das Fest war lebhafter als am Tag zuvor. Vom Morgen an zogen geschmückte Wagen durch die Straßen. Prächtig dekorierte Lastwagen voller Musikanten mit Flöten und Trommeln fuhren vor dem Mikoshi her.
Zwischen den Klängen der traditionellen Musik vernahm ich das Weinen der Frau. Einmal schien es jedoch das Heulen des Windes zu sein. Ach, es ist nur der Wind, dachte ich für einen Moment erleichtert, aber dann war es wieder die Stimme der Frau.
Die Flöten und Trommeln klangen heiter. Die Stimme der Frau war düster. Mitunter verlor ich die Festwagen und den Mikoshi aus den Augen. Der Dunst wurde dichter. Wenn ich der Musik folgte, klärte sich mein Gesichtsfeld auf, und ich war wieder mitten im Trubel des Festes.
»Sie war so ein gutes Kind«, schluchzte die Frau.
»Sie?«
»Das aufgehängte Mädchen.«
»Das warst nicht du, sondern deine Tochter, oder?«, fragte ich, aber da ich die Frau nicht sehen konnte, fühlte ich mich verzagt und verunsichert.
»Weiß nicht«, hörte ich nur ihre Stimme.
Warum brachte man Kinder zur Welt? Hunde, Katzen, Füchse, Hirsche, Menschen, alle strebten nach Nachwuchs. Wenn ich mein Herz Rei oder Seiji zuwandte, fiel kein Schatten darauf, alles war klar. Nur, wenn es um Momo ging, zogen Wolken, zog Unsicherheit darin auf. Es war das Gleiche wie in meiner Jugend, als ich noch nicht wusste, wie mein Körper funktionierte und reagierte. Ich hatte keine Ahnung, welche Gefühle ich für Momo hegte, ob ich sie mochte oder nicht, ob ich sie liebte oder hasste, und wie die Mischung dieser Gefühle aussah.
»Mit Fremden ist es einfacher als mit dem eigenen Kind«, murmelte ich. Langsam tauchte die Frau wieder aus dem Dunst auf.
»Wirklich?«, fragte sie.
Vielleicht doch nicht. Als ich lachte, lachte sie auch. Glücklicherweise hatte sie aufgehört zu weinen. Eine weinende Frau ist erbarmungswürdig.
»Schau, ich werde wieder nass.« Die Frau streckte mir ihren Arm hin. Ab und zu nieselte es, dann wieder hörte es auf. Statt den Regen abzustoßen, wurde ihre Haut immer nasser.
»Wir sind einander wirklich nah gekommen, nicht?«, sagte ich. Sie nickte.
»Pass auf dich auf!«, sagte sie und ging an mir vorbei.
Weshalb? Als ich mich umdrehte, war sie bereits verschwunden. Aus meiner Körpermitte breitete sich ein Unwohlsein aus. Ich verspürte einen heftigen Schmerz genau unterhalb der Magengrube.
Ich musste an die Zeile in Reis Tagebuch denken: Ich habe Gewicht verloren. Ich legte mir die Arme um den Körper und umarmte mich fest.
5
Das Schiff kippte langsam zur Seite, dann kenterte es ganz plötzlich.
Menschen wurden von Bord geschleudert und versanken.
Die Passagiere hatten dicht gedrängt auf dem Schiff gestanden. Der Taifun war fast abgezogen, dennoch war es auch am frühen Nachmittag noch ziemlich stürmisch. Am ersten Tag des Festes hatte man alle Rundfahrten abgesagt, aber als der Wind sich am Abend des zweiten Tages legte, hatte man beschlossen, die letzte doch noch stattfinden zu lassen.
In Windeseile vergrößerte sich die ursprünglich versammelte Menge um das Zehnfache. Von überallher strömten Menschen herbei. An der Straße reihten sich Stände, und es roch intensiv nach den auf den heißen Teppan-Platten brutzelnden Soßen.
Auf dem gekenterten Schiff hatte sich eine Musikkapelle befunden, und allein schon wegen der Musiker und ihrer Instrumente - Flöten und Trommeln - herrschte drangvolle Enge, die noch durch zahlreiche andere Personen in traditionellen Kimonojacken verstärkt wurde.
»Warum so eilig?«, fragte die Frau. Mit fortschreitender Nacht hatte ihre Präsenz sich verdichtet. Ich spürte sie nicht nur, sondern konnte auch immer wieder deutlich ihre Gestalt erkennen.
»Erst verschwindest du, dann bist du wieder da«, sagte ich.
Die Frau lachte leise. »Du hast mich doch so eindringlich gerufen«, antwortete sie.
»Von eindringlich kann keine Rede sein. Ich kann auf Begleitung verzichten.«
»Die haben es aber eilig zu sterben«, sagte die Frau spöttisch.
Menschen, die von dem überladenen Schiff geschleudert worden waren, trieben in den Wellen. Wo Meer und Dunkelheit aufeinander trafen, bewegten ihre Köpfe sich auf und ab.
»Es ist nicht tief dort, ich glaube nicht, dass sie ertrinken
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