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Am Meer ist es wärmer

Titel: Am Meer ist es wärmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hiromi Kawakami
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Gesichtszüge verliehen ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit Rei, doch wirkte er weniger energisch. Ein weiterer Mann wandte sich um. Wie Halme im Wind neigte sich ein Kopf nach dem anderen in unsere Richtung.
    Aber Rei war nicht dabei.
    Die Frau hielt mich noch immer an der Hand. Lass mich los, sagte ich, aber sie hörte nicht auf mich. Es drängte mich, zu den Männern zu laufen, Reis Namen rufen, zu sehen, ob er nicht doch bei ihnen war, aber ich konnte nicht.
    »Waren sie auf dem gekenterten Schiff?«, fragte ich.
    »Ich weiß nicht«, antwortete die Frau und zerrte an meiner Hand. Beinahe wäre ich gestürzt. Unwillkürlich schrie ich auf. Nun wandten sich alle Männer zugleich um.
    Da entdeckte ich Rei. Ganz vorne im Zug der Männer sah ich sein Gesicht. Es war eindeutig Rei. Er war Mitte Dreißig, wie damals bei seinem Verschwinden.
    Wie verrückt schrie ich seinen Namen.
    Aber es drehte sich keiner mehr um.
    Das Schiff brannte noch immer. Dünne Rauchschwaden stiegen über dem Hafen empor.
    Rei!, dachte ich inbrünstig. Doch ganz gleich, wie inbrünstig ich ihn herbeisehnte, er würde nicht zurückkommen. Das wusste ich. Ich wusste ganz genau, dass er nicht zurückkommen würde. Dennoch sehnte ich ihn weiter herbei.
    Die Männer waren verschwunden, die Frau und ich wieder allein.
    Wie lange waren wir gelaufen? Wir gelangten an ein verlassenes Stück Strand.
    Im Gegensatz zum Hafen und dem angrenzenden Markt mit den Mikoshi und den blumengeschmückten Wagen war es hier menschenleer, und vor uns lag nur eine dunkle, trübselige Landungsbrücke.
    »Ich war schon einmal hier«, sagte die Frau.
    »Wann denn?«, fragte ich ohne besonderes Interesse. Sie hielt mich nicht mehr an der Hand. Geistesabwesend blickte sie aufs Meer hinaus.
    »Nachdem ich meine Zwillinge bekommen hatte«, erwiderte sie.
    Ich sah die Frau mit einem Zwilling auf dem Arm und dem anderen auf dem Rücken vor mir. Sogar das Schreien der Babys horte ich.
    »Bist du hierher gekommen, um das Meer zu sehen?«, fragte ich sie.
    »Das sehe ich jeden Tag.«
    »Dann um den Wind zu spüren?«
    »Den spüre ich jeden Tag.«
    »Warum dann?«
    »Manchmal war ich es müde zu leben«, erklärte sie trocken. »Von morgens bis abends rackerte ich mich ab, ohne es zu merken, ohne zu wissen, was mir Freude bereitete, was andere Menschen bewegte oder was mich selbst bewegte. Die Zeit verging, und ich wurde müde.
    Die Frau warf das Kind, das sie auf dem Arm trug, ins Meer. Dann löste sie das über der Brust verknotete Tuch, drückte das Kind, das sie auf dem Rücken getragen hatte, noch einmal fest an sich und warf es ebenfalls ins Meer. Die Kinder trieben kurz auf den Wellen und sanken dann in die Tiefe.
    Das Äußere der Frau veränderte sich. Sie trug nun einen weißen Hosenanzug und in der Hand eine viereckige schwarze Tasche. Wer so auftritt, hat bestimmt schon mal Wantansuppe gegessen, dachte ich im Stillen.
    Sie hatte ihr Haar im Nacken zusammengebunden, aber einige Strähnen hatten sich gelöst und flatterten im Wind.
    »Ich bin dieser Dinge so müde«, sagte die Frau im Hosenanzug.
    Aber Rei war ihrer nicht müde geworden, dachte ich. Wie immer las sie meinen Gedanken sofort. »Rei ist ein uninteressanter Mann.« Sie lachte. Das Gleiche hatte sie schon am Tag zuvor gesagt. »Einfach uninteressant«, wiederholte sie entschieden.
    Spielte es für die Verlassene eine Rolle, ob ihr verschwundener Mann interessant oder uninteressant war?
    Sie stand im Wind.
    Lass uns eine Wantansuppe oder eine Nudelsuppe essen. Lass uns einfach leben. Und hör mit dem Gejammer über deinen Überdruss auf, sagte ich in meinem Inneren.
    Die Frau schüttelte verständnislos den Kopf. Manchmal weiß ich nicht, ob du es ernst meinst oder einfach nur sehr oberflächlich bist.
    Ernsthaft, oberflächlich - das kann man im Leben überhaupt nicht trennen, schrie ich zurück.
    Sie stand mürrisch im Wind.
    Ich wollte nach Hause.
    Der Rauch vom Schiff wehte zu uns herüber. Er überzog den Himmel mit einem grauen Schleier.
    Warum haben sie es so eilig zu verschwinden? Im Meer zu versinken?, fragte ich, aber die Frau war gerade wieder fort. Ich war allein.
    Was blieb mir übrig, als weiterzugehen. Dabei dachte ich an Rei.
    Einmal hatten wir zusammen einen Ausflug an einen Wasserfall unternommen. Vor unserer Hochzeit. Der Wasserfall lag tief in den Bergen am Ende eines schmalen Pfades und war nicht mit dem Wagen zu erreichen. Seine Quelle lag so hoch, dass man nicht sehen konnte, woher er

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