Am Meer ist es wärmer
kam. Außerdem schien die Sonne sehr stark und blendete.
»Es ist mir unbehaglich, nicht zu wissen, woher das Wasser kommt«, sagte ich. Rei stimmte mir zu.
»Weißt du denn, woher du kommst, Kei?«, fragte er mich nach einer Weile.
»Woher?«, fragte ich. Ich verstand nicht, was er meinte. Rei nickte.
»Also, ich weiß ganz genau, was meine erste Erinnerung ist«, erzählte er nun. »Ich war etwa drei Jahre alt.«
»Das meinst du mit woher?«, fragte ich verwundert.
Er umfasste meine Schultern und zog mich an sich. »Ist dir kalt? Damals also, mit drei Jahren, pflückte ich ein Insekt von einem Baum in unserem Garten. Es war grün und sah seltsam aus. Weil ich noch so klein war, fehlte mir die Behutsamkeit, und ich drückte zu fest zu. Auf einmal spürte ich eine zähe Flüssigkeit auf meiner Hand. Ich hatte das Insekt zerquetscht. Ich trug es zu meiner Mutter in der Küche. Sie wich ein wenig zurück. Auch wenn ich wusste, dass es nicht meinetwegen, sondern wegen des Insekts war, bestürzte es mich. Es war tot. Ich warf es auf den Boden. Das Grün reflektierte auf dem mattbraunen Holz.
›Das war eine Stabheuschrecke‹, sagte meine Mutter. ›Die sind selten.‹
Stabheuschrecke - das Wort hörte ich zum ersten Mal. Meine Mutter hatte ihren normalen Ausdruck zurückgewonnen. Sie hob das Insekt auf, öffnete die Küchentür und warf es ins Gebüsch hinter dem Haus.
Um die aus dem Insekt ausgetretene Flüssigkeit abzuwischen, scheuerte ich mit der Handfläche über den Estrich. Meine Mutter stand über mir und beobachtete mich stumm.«
»Ich habe noch nie eine Stabheuschrecke gesehen«, sagte ich, und Rei lachte leise.
»Im Grunde fing mein Leben mit dem Stabheuschreckenerlebnis an. Es ist das Gleiche wie mit dem Anfang des Wasserfalls. Von dem, was vorher war, habe ich keine Ahnung. Obwohl es ja um meine Person geht«, sagte Rei und zog mich fester an sich.
»Ich weiß nicht, wann dieser Punkt bei mir war«, sagte ich.
»Es ist kalt«, sagte Rei noch einmal. Aber es war nicht Winter. Eher Frühjahr oder Spätherbst, ich weiß es nicht mehr. Ich vergaß alles. Sogar den Zeitpunkt, an dem mein bewusstes Leben begonnen hatte.
Wie gerade entstanden, stürzte der Wasserfall schäumend in die Tiefe. Dabei gab es ihn schon seit Jahrhunderten.
Wirklich, alles vergaß ich. Seit ich hier war, hatte ich auch Seiji völlig vergessen. Seit ich nach Manazuru gekommen war.
Selbst wenn ich alleine spazieren ging, dachte ich überhaupt nicht an ihn. Wie traurig. Aber was bedeutete das eigentlich? Traurig für Seiji? Oder traurig für mich?
Das Schiff brannte weiter. Ich verließ den trostlosen Strand und ging wieder zum Hafen. Der Brandgeruch hatte etwas Bitteres. Auch Seijis Atem roch bisweilen bitter, bitter-süß. Wenn wir uns liebten, tauschten wir Speichel aus. Auch sein Speichel war herb.
Es war nicht immer so, dass Seiji den Anfang machte, manchmal war ich es. Wer von uns den Anfang machte, spielte keine Rolle. Es waren eher die Stimmung, die Atmosphäre im Raum oder die Temperatur unserer Haut, die den Ausschlag gaben.
In Seijis Armen dachte ich manchmal an diese erste bewusste Erinnerung, von der Rei gesprochen hatte. Obwohl ich nicht sagen konnte, wann dieser besondere Moment gewesen war, stieg doch mitunter eine Erinnerung an die Einsamkeit auf, die ich früher empfunden hatte, oder an gewisse Geräusche oder Gerüche.
Rei hatte mich stets überwältigt und in Besitz genommen, aber mit Seiji konnte ich lange schweben. War nicht einsam. Ganz gleich, wer von uns den Anfang machte. Vielleicht kam mir deshalb meine frühere Einsamkeit in den Sinn.
Du siehst bedrückt aus, sagte Seiji dann zu mir.
Worauf meine Miene noch bedrückter wurde. Ohne es zu wollen, war ich in die Einsamkeit zurückgekehrt, in der ich lebte, als noch nichts geschehen war - als ich die Welt außerhalb meines Elternhauses noch nicht kannte und Rei noch nicht begegnet war.
Ich gelangte wieder zum Hafen. Es waren keine Festbesucher mehr da. Das Schiff war bis auf das Gerüst niedergebrannt, aber überall züngelten noch kleine Flammen.
Über mir dröhnte ein Hubschrauber. Ich merkte, dass mit den Geräuschen auch die Farben in die Landschaft zurückgekehrt waren.
Ich will nicht mehr zurück, murmelte ich. Ob es Rei auch so gegangen war? Hatte auch er nicht mehr zurückgewollt? Unter all diesen Grübeleien fand ich mich ganz plötzlich in der Wirklichkeit wieder.
Im Hotel angekommen, ließ ich mir den Schlüssel geben und betrat
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