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Am Meer ist es wärmer

Titel: Am Meer ist es wärmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hiromi Kawakami
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wurde.
    Ich konnte nicht erkennen, ob das gespiegelte Gesicht einem Mann oder einer Frau gehörte. Ich wusste nur, dass es nicht meins war. Mit stechendem Blick starrte es mir von der Stange entgegen.
    Die Gesichter - meins und das unbekannte - schoben sich übereinander, und die Verzerrung verstärkte sich.
    Die U-Bahn schwankte heftig.
    Ich blickte in Reis Richtung. Er wirkte nun leicht gebeugt in seinem dunkelgrünen Jackett. Er schaute aus dem Fenster. Sein Profil wirkte müde. Er war sehr weit fort, obwohl er ganz in meiner Nähe stand.
    Nach zwei Stationen stieg er aus, und ich mischte mich unter die Menge, um ihm zu folgen. Der Abstand zwischen uns wurde kleiner, dann wieder größer. Als ich einmal so dicht an ihn herangeschoben wurde, dass ich ihn mit ausgestreckter Hand hätte berühren können, hätte ich ihn beinahe angesprochen.
    Er würde sich ohnehin nicht zu dir umdrehen, flüsterte mir das Wesen, das mir folgte, ins Ohr. Stimmt, erwiderte ich stumm.
    Rei ging immer weiter. Der Frau entgegen. Der Frau mit dem Muttermal im Nacken. Auch wenn ich meine Hand nach ihm ausstrecken würde, würde er es nicht bemerken. Als wäre eine dünne, kalte Wand zwischen uns.
    Die Frau war schon da.
    In dem Augenblick, als Rei und sie einander gegenübertraten, füllte sich der Raum um sie herum mit Licht. Es war so blendend hell, dass ich nichts sehen konnte.
    Sie saßen in der Lounge eines Hotels.
    Vor der Frau stand ein hohes Glas mit einem hellgrünen Getränk, wahrscheinlich ein Cocktail. Sie nippte immer nur kurz daran und stellte es sofort wieder ab, um Rei anzusehen.
    Er redete. Weder nahm er Akten aus seiner Mappe, noch schien er ihr etwas zu erläutern. Es sah nicht nach Arbeit aus, nein, es wirkte schrecklich intim.
    Rei bestellte. Wie erstarrt stand ich in dem ausgedehnten Foyer neben der Lounge. Die Drehtür am Eingang bewegte sich langsam, Menschen kamen und gingen an mir vorbei.
    Teller und Gläser wurden an Reis Tisch gebracht. Er schob den Teller, den die Bedienung vor ihn hingestellt hatte, in die Richtung der Frau, so dass er zwischen ihnen stand. Mit einer eleganten Bewegung nahm sie etwas Längliches von dem Teller und steckte es sich in den Mund. Dann wischte sie sich die Finger an einer Serviette ab. Nun streckte auch Rei seine Hand nach dem Teller aus, nahm eine etwas größere Menge, von dem, was sich darauf befand, und schob es sich rasch in den Mund. Die Frau beobachtete, wie seine Finger leicht seine Lippen berührten und sie sich beim Kauen bewegten.
    Vom Foyer konnte man direkt in die Lounge hineinsehen. Rei saß gar nicht so weit entfernt auf gleicher Höhe wie ich. Zwischen ihm und mir saß die Frau. Hass stieg in mir auf.
    Ein Hass, der mich am ganzen Körper erbeben und meine Knie zittern ließ. Ich wankte zu einem der großen Sofas und ließ mich hineinfallen. Die Sicht auf Rei und die Frau war mir nun fast versperrt. Dennoch konnte ich die beiden ganz deutlich spüren. Ich hatte sogar das Gefühl, ihre Stimmen zu hören, obwohl das aus dieser Entfernung nicht möglich war.
    »Rei«, sagte die Frau.
    Und Rei sagte den Namen der Frau. Wie hieß sie überhaupt? Rei bewegte zärtlich die Lippen.
    »Rei«, wiederholte sie.
    Er antwortete nicht, sondern spielte mit ihrer Hand.
    Ich hörte und sah die beiden, obwohl es unmöglich war.
    »Entschuldigung?«, vernahm ich eine Stimme neben mir. Sie klang weit fort. Ich hielt den Kopf gesenkt und rührte mich nicht. »Entschuldigen Sie«, wiederholte die Stimme.
    Ich schaute durch den Vorhang meiner Haare nach oben. Ein Mann in Livree stand vor mir. »Geht es Ihnen nicht gut? Soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?«, fragte er.
    Ich hob den Kopf. »Nein, danke, es ist alles in Ordnung.« Der Livrierte verbeugte sich. »Verzeihen Sie die Störung«, sagte er und ging davon.
    »Rei«, hallte die Stimme der Frau, die ich gar nicht hören konnte.
    »Und was hast du dann gemacht?«, fragte die Frau.
    »Ich weiß nicht mehr«, erwiderte ich.
    Wir standen mitten im Festtagsgedränge. »Aber der Umzug war doch schon zu Ende«, sagte ich. Die Frau schüttelte belustigt den Kopf. »Alles kommt immer und immer wieder.«
    Mikoshi wurden vorbeigetragen. Die Männer in ihren Jacken und Stirnbändern schwitzten, dass es nur so spritzte, während die Sänften aus den verschiedenen Stadtteilen um die Wette und sich im Rhythmus der Träger auf und nieder bewegend durch die Straßen zogen.
    Von einem Lastwagen ertönten Trommeln und Flöten im endlos gleichen

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