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Am Meer ist es wärmer

Titel: Am Meer ist es wärmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hiromi Kawakami
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Takt. Die Frau blieb dicht neben mir und lauschte mit geschlossenen Augen.
    »Du hattest es gar nicht vergessen, oder?«, flüsterte sie. Ihre Stimme war so leise, dass sie im Lärm hätte untergehen müssen, dennoch hörte ich sie ganz deutlich.
    Hatte ich nicht...? Ich hatte nicht gewagt, bis in das Zimmer vorzudringen, das die beiden aufsuchten, nachdem sie zusammen in den Aufzug gestiegen waren. Ich starrte auf die Stockwerk-Anzeige. Sie zeigte eine mittlere Etage an. Also waren sie nicht nach ganz oben gefahren, wo die Restaurants waren, oder nach ganz unten, wo sich die Säle für Hochzeiten usw. befanden. In der Mitte gab es nur Gästezimmer. Hatte ich wirklich diese Zahl aufleuchten sehen?
    »Kann schon sein«, flüsterte die Frau und beobachtete dabei mein Gesicht.
    Ich sah beiseite und dachte an Momo.
    Nein, gewiss hatte ich mir die ganze Szene nur eingebildet. Sie hatte sich in mir verselbstständigt, wie die Wolken im Sommer ihre Form verändern. Mal sind sie rund, dann wieder spitz, dann lang und dünn oder nur Fetzen. Ebenso wandelbar waren die Vorstellungen, die meine Gedanken hervorbrachten. Bald waren sie groß, bald klein, bisweilen wurden sie zu Schreckgespenstern und dann plötzlich wieder zu etwas Schönem, Lichtem. Mit dieser Geschichte verhielt es sich sicher nicht anders.
    Nächstes Jahr würde ich das Fest mit Momo besuchen. Ich nahm es mir fest vor. Wo fing die wirkliche Erinnerung an, und wo begann etwas anderes? Konnte es sein, dass ich mir von Anfang an alles eingebildet hatte, auch wenn ich mich so genau erinnerte? Der Festzug zog in all seiner Pracht an mir vorbei. Im nächsten Jahr würde ich auf jeden Fall mit Momo hier stehen und die mitreißende Kraft dieses Festes gemeinsam mit ihr erleben.
    »Nicht auflösen«, unterbrach mich die Frau, und ich hatte das Gefühl, in ein tiefes Loch zu stürzen.
    Zusehends schwand mein Körpergefühl. Wie bei der Frau, die mich begleitete. Ihre Stimme klang traurig. Momo, dachte ich. Momo, ich habe dich lieb. Ich liebe Momo, dachte ich, während mein Körpergefühl immer mehr dahinschwand. Eine Gruppe Männer, die die Blumenwagen umringten, machte sich auf dem Hang breit, um zu tanzen.
    Die Frau führte mich weiter.
    Irgendwann fand ich mich an einen der morschen Balken der Ruine am oberen Ende der Gasse gelehnt wieder. Durch die rissigen Wände schimmerte das Meer.
    »Ich höre mal wieder nichts«, sagte ich. Die Frau nickte.
    Ohne die Geräusche kam ich mir vor wie in einem Vakuum, in dem mich mehrere unsichtbare Wesen umgaben. Sie fühlten sich dichter an als die schwachen Präsenzen, die mir im Kaufhaus gefolgt waren. Aber deutlich waren sie auch nicht, ich merkte nur, dass es mehrere waren.
    »Lass sie. Sie verschwinden auch wieder«, sagte die Frau.
    Ich nickte. Ich weiß. Ich weiß doch.
    Ich hatte Rei und die Frau noch ein weiteres Mal zusammen gesehen.
    Es war mitten in der Nacht. Rei hatte angekündigt, dass er wegen einer Abschiedsparty spät nach Hause kommen würde. Ich aß mit Momo zu Abend, badete sie und brachte sie sehr früh zu Bett, da am nächsten Tag ein Sportfest in ihrem künftigen Kindergarten auf dem Programm stand.
    Beim Abendessen war Momo sehr aufgeregt und plapperte unentwegt von dem Proviant, den wir morgen mitnehmen würden, und dem Sportfest.
    »Momo will Bananen. Und Schulranzen«, verlangte sie.
    Als ich sagte, sie sei noch zu klein für einen Ranzen, und dass sie einen bekäme, sobald sie ein Schulkind wäre, wurde sie wütend. Ihr Kopf war voll von Proviant, Schulranzen, Sportfest, Sandkasten und Kiko, ihrem Plüschhasen, und sie war völlig aus dem Häuschen.
    »Momo will Bananen!«, schrie sie schließlich.
    Um sie zu beruhigen, versprach ich ihr die Bananen, und rannte, als sie eingeschlafen war, zu einem Supermarkt, der auch nachts geöffnet hatte. Ich hatte mir die Haare gewaschen, und sie waren noch nicht ganz trocken. Es wehte eine laue spätsommerliche Brise.
    Eng aneinander geschmiegt standen Rei und die Frau im Schatten neben dem Supermarkt. Sie flüsterten miteinander.
    »Oh...«, entfuhr es mir.
    Musste das ausgerechnet hier sein? Ich strengte meine Augen an, um das Dunkel zu durchdringen. Aber ob es wirklich Rei und diese Frau waren, konnte ich nicht mit Sicherheit erkennen.
    Eilig kaufte ich ein paar Bananen. Und Papiertaschentücher. Äpfel nahm ich auch mit. Ich hoffte, sie würden verschwinden, während ich meine Einkäufe erledigte. Doch als ich wieder ins Freie trat, waren die beiden Gestalten

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