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Am Montag flog der Rabbi ab

Am Montag flog der Rabbi ab

Titel: Am Montag flog der Rabbi ab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Kemelman
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mehr gewinnend, sondern blickten gleichgültig auf die Passanten, unter denen sie nicht auf Kunden rechnen konnten.
    Einmal mussten sich Miriam und David flach gegen die Mauer drücken, als zwei mit Obstkisten beladene Esel von einem kleinen Jungen durch die Straße getrieben wurden. Ein andermal mussten sie vor einer Schafherde in den nächsten Hauseingang flüchten.
    An einer Stelle verbreiterte sich die Straße plötzlich zu einer Art Platz, auf dem ein paar kleine fünf- oder sechsjährige Mädchen spielten. Sobald sie die Smalls sahen, rannten sie auf sie zu, streckten ihnen die schmierigen Hände entgegen und bettelten: «Money, money.»
    «Kümmere dich nicht um sie», sagte der Rabbi und schüttelte mit strengem Blick auf die Mädchen den Kopf. Eine Kleine umklammerte mit beiden Armen ihren Bauch, um damit zu zeigen, dass sie Hunger hatte, und als selbst das keine Reaktion zeitigte, schwankte sie und fiel zu Boden. Miriam war versucht, stehen zu bleiben; doch ihr Mann ging mit großen Schritten weiter, und sie befürchtete, ihn aus den Augen zu verlieren. Als sie etwas später zurückblickte, stellte sie erleichtert fest, dass die Kleine inzwischen aufgestanden war und vergnügt mit den anderen weiterspielte.
    «Meinst du, sie hatte wirklich Hunger, David?»
    «Die bestimmt nicht. Sie machen alle einen wohlgenährten Eindruck, und sie trägt neue Schuhe.»
    Ein Schild führte zu einer schmalen Treppe. Sie folgten der Menge. Als sie die Stufen hochgestiegen waren, sahen sie einen weiträumigen Platz vor sich und dahinter die Klagemauer. An beiden Seiten des Weges war ein Soldat postiert, und die Frauen mussten ihre Handtaschen zur Kontrolle aufmachen.
    Die Smalls standen auf einem Steinbalkon und sahen auf die Szene hinab. Ein Zaun, der im rechten Winkel zur Mauer verlief, trennte den für die Frauen bestimmten Teil auf der Rechten von dem der Männer auf der Linken. Ein paar Dutzend Frauen standen dicht vor der Mauer und berührten sie. Bei den Männern waren viel mehr, die meisten beteten und schwankten dabei verzückt hin und her.
    Miriam blickte ihn an. «Berührt dich das, David?», fragte sie leise.
    Er schüttelte langsam den Kopf und überlegte. «Nicht die Klagemauer an sich. Für mich ist das eine Mauer, weiter nichts. Freilich gehörte sie vermutlich zum Tempel und wurde wahrscheinlich von Herodes erbaut, und der zählt nicht zu meinen Favoriten. Trotzdem – die Betenden finde ich rührend. Vielleicht ist eine bestimmte heilige Stätte für ein Volk doch notwendig.»
    «Wollen wir nach unten gehen?» Sie trennten sich an dem Zaun. «In zwanzig Minuten treffen wir uns hier.»
    Er schlenderte umher, näherte sich dann der Klagemauer, nicht um zu beten, sondern um einige Minuten in stummer Meditation zu verharren. Dann ging er wieder weiter, blieb gelegentlich stehen, um die massiven Steine zu betrachten, sie mit der Hand zu befühlen. Er passierte den angrenzenden Torbogen und gelangte zu einer Ausgrabungsstelle, inspizierte dort einen Säulenschaft, der bis auf die vermutete ursprüngliche Ebene des Tempels eingesunken war. Dann kehrte er zurück, um auf Miriam zu warten.
    Als sie erschien, fragte er: «Na, hast du gebetet?»
    «Ja. Aber worum, verrate ich dir nicht.»
    «Ich finde auch nicht, dass du das solltest.»
    «Also dann lasse ich’s. Eine Frau wollte mich dazu bewegen, einen langen Rock anzuziehen, den sie mithatte. Ich hab mich geweigert.»
    Er schaute auf ihre Beine. «Wahrscheinlich war sie nur neidisch.»
    «Auf meiner Seite steckten überall Papierstückchen in den Mauerritzen.»
    «Auf meiner auch. Ich hab mir ein paar angesehen.»
    «Das ist nicht wahr!»
    Er nickte. «Aber sicher. Warum nicht? Hinterher hab ich sie zurückgesteckt.»
    «Was stand darauf?»
    «Hm. Der eine wollte, dass Gott ein Erdbeben in Ägypten bewirkt. Ich war versucht, den Zettel nicht zurückzutun, aber dann dachte ich, Gott kann wahrscheinlich selber auf sich aufpassen. Und einer bat um eine Gewinnzahl in der Lotterie. Und ein anderer wollte von einer Krankheit geheilt werden.»
    Sein Ton veranlasste sie zu der Frage: «Du bist nicht einverstanden damit, nicht wahr?»
    «Nein, aber es war recht rührend. Daheim würde ich wohl meine Missbilligung äußern, aber hier …»
    Miriam schob den Arm unter den seinen. «Es ist ein Unterschied, stimmt’s?»
    Er nickte. «So viele verschiedene Menschen, und alle kommen sie her, um etwas zu suchen. Siehst du den großen blonden Mann? Er hat verblüffende

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