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Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Titel: Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Vollkommer
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Tropfen Alkohol mehr an und widmete sich stattdessen seiner Familie und einer neu entdeckten Begabung: Malen. Seine Landschaftsbilder in Öl waren begehrte Sammelobjekte in Kugluktuk und Umgebung.
    Als er spät am Abend auf das rot leuchtende Wasser blickte, hörte John in seinen Erinnerungen wieder die Rufe der Jäger und Fischer, die an Land setzten, ihre Boote mit Robben und Fisch beladen. Er hörte das Gejaule der Hunde, wenn Schlitten unter Schreien der Freude und Begeisterung aus der Wildnis zurückkamen, mit Karibus, Polarfüchsen und Eisbär voll bepackt. Er dachte daran, wie sie mit einem Haushusky im Schnee herumgetobt waren, den er und Angela für sich als Spielkameraden behalten durften. In den Ohren klang ihm das laute Lachen, als Dad einmal voller Stolz mit einem Lemming nach Hause kam, den er auf der Fahrt gefangen hatte und seinen Kindern als Haustier schenken wollte. Dann erst stellte er fest, dass Betty in seiner Abwesenheit gegen eine regelrechte Plage von Lemmingen um das Haus herum gekämpft hatte und ihren Anblick nicht leiden konnte.
    Nüchternere Bilder schossen ihm durch den Kopf. Dad im Vorbereitungsstress, während er Kisten auf dem Schlitten festschnürte. Mom, die mit penibler Sorgfalt die Nahrungskiste überprüfte, ob ja alles dabei war. Und die Abfahrt. Elf riesige Huskys, die in die endlose, zeitlose, eisige Wüste preschten, Dad von Kopf bis Fuß in Felle eingepackt, hinter den Hunden auf dem Schlitten. Es ging ihm ein Stich durch das Herz, als er an seine Mutter dachte. Erst jetzt, selbst Ehemann und Vater, verstand er den Schatten, der kurz über Bettys Gesicht geflimmert war, während sie ihren Mann mit ihren Augen verfolgte, bis er nur noch ein Punkt am Horizont war. Und dann: »Kommt, Kinder, was machen wir jetzt miteinander?«
    »So, genug der Nostalgie.« Er drehte sich um und lief am alten Missionshaus vorbei, das er als Kind mitgebaut hatte, zurück in die Ortschaft. Das Haus war nicht mehr bewohnt. Abgesehen von einem neuen Farbanstrich war es allerdings unverändert, ein historisches Denkmal aus früheren Zeiten. »Komische Farbe«, dachte er, »und zu viele Häuser drum herum. Eingeengt. Mir würde jetzt die Weite fehlen.«
    Beim Festabend am nächsten Tag herrschte Nostalgie der fröhlichen Sorte. Jack wurde mit einem »Award for Linguistics« für die Rolle ausgezeichnet, die er beim Erhalt der Inuit-Sprache gespielt hatte, wie auch für seine Übersetzungsarbeit. Er war einst gekommen, um den Menschen zu dienen. Aber nebenher hatte er unversehens dazu beigetragen, dass eine außergewöhnliche Kultur vor dem Untergang bewahrt wurde.
    Von seinen kulturellen Errungenschaften verstanden die zwei alten Damen wenig, die nach der Auszeichnung und den Reden nach vorne drängten und Jack ein Paar Fäustlinge aus Fell in die Hand drückten. Sie drehten sich zum Publikum um und erzählten in der Inuinaktun-Sprache von den vielen Besuchen, die Jack in ihrer Siedlung gemacht hatte, von der Freude, die seine Ankunft unter ihnen auslöste, und von der herzlichen Gemeinschaft der Igluversammlungen. Von ihrer Überraschung, dass sie für ihn, für Gott, so wichtig waren. »Wir verstehen es bis heute nicht«, sagten sie mit Tränen in den Augen. »Aber dankbar sind wir. Unendlich dankbar.«
    Plötzlich brach Unruhe hinten im Saal aus. Ein Rollstuhl wurde nach vorne geschoben. Es war John Allukpik, kaum sichtbar hinter einem riesigen, viereckigen braunen Paket, das er im Arm hielt.
    »Für dich«, sagte er und hielt das Paket zu Jack hoch. Jack entfernte neugierig zwei Schichten von braunem Papier. Es war ein Ölgemälde. Ein auserlesenes, handgemaltes Panorama einer tief verschneiten Landschaft in sanften blauen und weiß-grauen Tönen. Auf der linken Seite ein Schlitten, ein Hundegespann und unverkennbar auf dem Schlitten: Jack Sperry. In der Ferne ein weiteres Schlittengespann.
    Jack war sprachlos. Es war, als hielte er plötzlich seinen gesamten Lebensauftrag in symbolischer Form in seinen Händen. Tausende von Kilometern, die er manchmal in Lebensgefahr, oft in Not und Leid zurückgelegt hatte. Für die Botschaft, die er brachte. Für die Frau, die geduldig zu Hause arbeitete, wartete, vertraute, Menschen diente, Kinder versorgte.
    »Wenn Betty das sehen könnte«, war sein einziger Gedanke.
    »Drei ganze Tage lang wurde mein Dad von diesen Menschen, den alten wie auch den jungen, für das geehrt, was er und Mom vor so vielen Jahren getan hatten«, schrieb John nach seiner Rückkehr

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