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Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Titel: Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Vollkommer
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und der Schlitten raste in das menschenleere Halbdunkel der Polarnacht hinaus.
    Bald hörte man den Lärm und die Stimmen aus dem Dorf nicht mehr. Sam lenkte die Hunde auf schon befahrene Spuren und sofort glitten die Kufen in die Fahrrinnen vorausgegangener Schlittengespanne. Sams Sinn für Navigation versetzte Jack immer wieder ins Erstaunen. Spuren von Menschen und Tieren waren für ihn nicht bloß willkürliche Striche im Schnee, sondern stellten ganze Lebensgeschichten dar. An ihnen konnte er mit ziemlicher Sicherheit feststellen, welche Siedlung wohin und wann gezogen war, in welche Richtung die Karibuherden sich gerade bewegten und welche Jäger ihren Spuren folgten.
    Leichte Wolken glitten über den Mond. Das fahle Meer schimmerte auf der linken Seite, das Land lag noch tief im Zwielicht. Nur die Sterne schienen lebendig und funkelten am Horizont wie kleine Diamanten auf pechschwarzem Stoff. Stunde um Stunde verstrich in tödlicher Stille. Nur das Hecheln der Hunde, das Zischen der Kufen, das Knirschen der Stiefel, während die Männer abwechselnd neben dem Schlitten liefen. Erst um die Mittagszeit rötete sich das Firmament, dort, wo Meer und Himmel sich berührten. Es war ein halbherziges Morgengrauen, das sich bald danach wieder in Dämmerung verwandeln würde.

    »Wenn wir den richtigen Schnee finden, bleibt das Zelt zusammengerollt und wir bauen ein Schneehaus. Aus der Ferne sieht der Schnee gut aus.«
    Zelte hatten die Reisenden immer dabei, vor allem in der Frühlingszeit, wenn der Schnee nicht mehr so frisch war. Aber als Isolierung gegen die Kälte war Schnee effektiver und ein provisorisches kleines Schneehaus zum Übernachten war schnell gebaut. Ein Iglu hielt die Wärme besser und sorgte dafür, dass die Nachttemperaturen um die Schlafsäcke herum nicht unter den Gefrierpunkt sanken. In einem Zelt dagegen sank die Innentemperatur schnell auf die Außentemperatur, sobald der Kerosinbrenner aus war. Sparsame Packvorschriften machten es unmöglich, genug Öl für eine Nachtheizung mitzunehmen. Man schlief voll bekleidet im Schlafsack und musste sich, bevor man Guten Morgen rufen konnte, erst aus einer Schicht Eis herausstrampeln, die sich durch die Feuchtigkeit des Atems nachts um den Rand des Schlafsacks herum gebildet hatte.
    Sam stach mit einem Stock mehrere Proben aus den Schneeverwehungen, in deren Nähe die Männer angehalten hatten. Bald erklärte er einen der Hügel als perfekt und holte das Messer vom Schlitten. Zuerst zeichnete er einen weiten Kreis auf den Schnee, dann fing er an, Vierecke aus dem Hügel zu schneiden, während Jack die Hundeketten ausbreitete und die Hunde fütterte. Als er damit fertig war, standen schon die ersten Reihen Schneeblöcke, gegen die Jack zusätzlich lockeren Schnee aufhäufte. Bald schnitt Sam eine kleine Tür in die Wand und krabbelte hinein. Jack reichte ihm eine Kerze. Im Nu schoss ein wunderschönes, gewölbtes Bauwerk aus dem Boden, das sanft und golden gegen den schwarzen Nachthimmel schimmerte. Der Umriss jedes einzelnen Blocks zeichnete sich durch den Kerzenschein ab. Jack holte seine Kamera aus dem Rucksack, um diesen Moment festzuhalten. Für Schnappschüsse, die in der Heimat auf Interesse stoßen könnten, blieb meist nicht viel Zeit übrig.
    Sam war schon dabei, die Risse des Häuschens von innen auszubessern. Jack beobachtete, wie sein Schatten flimmerte, hochschoss und wieder verschwand, während er eine Schlafplattform zurechtklopfte. Wie eine lustige Märchenfigur, dachte Jack.
    Manchmal kam ihm sein ganzes Leben hier wie ein Märchen vor. Wie ein Traum, aus dem er plötzlich aufwachen und sich unter seiner gemütlichen Bettdecke in Leicester wiederfinden würde. Küchengeräusche, der Geruch von Rührei, Speck und Toast, der fröhliche Ruf seiner Mutter, die BBC-Morgennachrichten im Radio. Ein Stich Heimweh schoss durch sein Herz. Besonders beängstigend in dieser ungeheuerlichen Kälte war das Gefühl, dass es kein Entrinnen gab. Es war bitterkalt und blieb kalt, auch nachts. Keine warme Hütte, in die man abends einkehrte wie auf einer Alpenwanderung. Allein das Übernachten war eine Grenzerfahrung, die stoische Konzentration erforderte.
    »Fertig!«, rief Sam.
    Jack reichte ihm Schlafdecken ins Iglu, danach die Schlafsäcke und dann Ofenkiste, Essenskiste und Ölbehälter. Dann kroch er selbst hinein. Beide Männer zogen ihre Parkas aus und klopften den Schnee ab. Die dicken Mäntel dienten in der Nacht als zusätzliche Fußdecken. Die

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