Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis
andere Gedanken. Die Abende würden wohl das Hauptproblem sein.
Nachdem Jack seine Frau lange gedrückt und sich mit schwerem Herzen von ihr verabschiedet hatte, der Schlitten am Horizont verschwunden war und die Befehlsrufe an die Hunde nur noch entfernt zu vernehmen waren, setzte Betty sich hin und fing an zu schreiben. Zuerst die Namen der sieben Eskimofamilien, die in Coppermine sesshaft waren. Auf ein anderes Blatt schrieb sie zwölf weitere Namen auf. Das waren die Menschen, die aus dem Süden hierher gezogen waren. Regierungsbeamte, Polizisten, die Familie Munro. Die dritte Liste war viel länger. Das waren die Familien aus entfernteren Siedlungen, die in regelmäßigen Abständen nach Coppermine kamen. Unter jeder Liste notierte Betty Ideen, wie sie das Leben dieser Menschen – und sei es nur für einen Kurzaufenthalt in Coppermine – aufheitern konnte. Coppermine war nicht nur Anziehungspunkt für Jäger und Fallensteller aus allen Richtungen, die ihre Felle brachten. Auch Verwandte auf der Durchreise übernachteten immer wieder in der Siedlung. Sie war quasi ein Mittelpunkt für jeden, der sich in einem 5 000-Kilometer-Radius bewegte. Zu besonderen Festzeiten wie Weihnachten und Ostern schlugen Menschen von überall her ihre Zelte oder Iglus in Coppermine auf, um zusammen mit anderen zu feiern. Es waren zu fast jeder Zeit genug Menschen versammelt, um eine Frauen- und eine Kinderarbeit aufzubauen und Gottesdienste zu halten. Ein paar junge Leute aus der Gegend waren in Aklavik auf einer Missionsschule der anglikanischen Kirche gewesen, konnten also beide Sprachen und boten Betty ihre Dienste als Dolmetscher an. Andere Mitarbeiter in der kleinen Kirche hatten Jack versichert, dass sie in seiner Abwesenheit auf seine Frau bestens aufpassen würden.
Betty lud weitere Frauen zu ihren Back- und Stricknachmittagen ein. Der Kinderschar, die sich regelmäßig in ihrem Haus aufhielt, erzählte sie Bibelgeschichten. Sie machte mit den kleinen Besuchern Spiele, malte mit ihnen Bilder. Sie leitete mit der Hilfe eines Dolmetschers ihren ersten Gottesdienst. Die aufmerksamen Gesichter, die dankbaren Worte nach ihrer kurzen Andacht machten ihr Mut.
Nur ganz selten, wenn ein mitfühlendes Herz sie zum Reden brachte, schüttete Betty ihren Schmerz über das verlorene Kind aus. Viele Jahre später, in einem ihrer letzten Gespräche, bevor sie mit 78 Jahren plötzlich an Herzversagen starb, erzählte sie mit feuchten Augen von ihrer Jacqueline. Sie hat sich nie ganz von ihrem Tod erholt.
Auch Jack fand nach und nach seine eigene Art, mit der Trauer fertig zu werden. Eines Tages lief er mit anderen Coppermine-Freunden gemäß der Sitte hinaus, um ein anrückendes Schlittengespann zu begrüßen und bei der Versorgung der Hunde und der müden Reisenden zu helfen. Die Freude im Begrüßungskomitee verklang schnell, als eine junge Frau mit schwerem Schritt vom Schlitten herabstieg und auf Jack zustolperte. Fest an ihren Körper gedrückt hielt sie ein Bündel. Als sie den Missionar sah, übergab sie es ihm und flüsterte: »Bitte beerdigen.« Sie hatte ihr Kind unterwegs unter primitivsten Bedingungen zur Welt gebracht und es war kurz darauf gestorben. Sie war zu schwach und müde, um zu weinen.
»Als ich in die trüben Augen dieses Elternpaares blickte, vereinte uns ein unsichtbares Band«, schrieb Jack in sein Tagebuch. »Auf einmal begriff ich, dass unsere Erfahrung der Trauer uns nicht nur in eine tiefere Abhängigkeit von Gott geführt hatte, sondern uns auch ein größeres Verständnis für das Leiden unserer Leute gab. Unser Schmerz verband sich mit ihrem Schmerz. Das ist zwar keine Antwort auf die Frage ›Warum?‹, wirft aber einen kleinen Hoffnungsschimmer auf das ›Wozu‹.«
Es dauerte nicht lang, bis Betty um Zeit ringen musste, um zur Ruhe zu kommen. Sie richtete sich einen alten Sessel neben dem Ofen ein. Dieser sollte ihre Gebetsstätte werden, direkt an der einzigen Quelle des Lichts und der Wärme, die ihr während der monatelangen Dunkelheit und Kälte gegönnt war. Dieser Ort der Ruhe wurde für sie zu einem Symbol für Gottes Nähe. Hier kam ihr auch erstmals die Idee, den kleinen englischsprachigen Sonntagabend-Gottesdienst, den die Hudson-Bay-Mitarbeiter und die Regierungsbeamten besuchten, mit neuem Leben zu füllen. Sie fing an, Tee und Kaffee mit Kuchen und Brot vorzubereiten. In einem Ort, in dem es weder Fernsehen noch irgendwelche Vereine, Bingosäle oder Kneipen gab, war der
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