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Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Titel: Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Vollkommer
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sehen, die wie winzige Kugeln gegen das Fenster und auf das Dach peitschten. Johnny schlief schon. Betty schürte das Feuer im Ofen und legte frische Kohle nach.
    Das Unbehagen bei der Vorstellung, dass ihr Mann sich gerade mitten in diesem tödlichen Chaos von wütend treibendem Schnee irgendwo draußen in der Wildnis befand, konnte sie nicht abschütteln. Sie seufzte, betete und bereitete ihrer Tochter mit weißem Pulver aus einer Dose und aufgetautem Eis aus dem Wasserfass eine warme Abendmilch.
    Ob sie jemals ganz damit zurechtkommen würde? Mit dieser Qual des Wartens, dem schleichenden Gefühl der Ohnmacht, bis die innere Schwere anfing, ihrem Verstand Streiche zu spielen? Mit der steigenden Panik, die sie beinahe wahnsinnig machte, der Vorstellung, dass er eines Tages nicht wiederkommen würde? Es waren Momente, in denen sie mit gesammelten Kräften darum ringen musste, nicht vor Verzweiflung zu zerbrechen, während die Klage des Orkans wie die Begleitmusik eines Grabgesangs dröhnte. Bilder jagten durch ihren Kopf. Die lange Gestalt ihres Mannes, leblos auf einem Schlitten, in Karibufelle eingewickelt. Oder noch schlimmer, die Nachricht, dass keine Leiche gefunden wurde. Sie wäre nicht die erste verzweifelte Ehefrau, die umsonst wartete, während Naturgewalten Amok liefen und alles Lebende, das ihnen in den Weg kam, mit unerbittlicher Brutalität verschlangen. Vielleicht gab es wirklich bösartige Geister, die sich mit willkürlicher Zerstörungswut aufmachten, um alles in ihrer Reichweite zu vernichten? In der Arktis schien die Natur schadenfreudig alles aufzubieten, was dem Leben eines Eindringlings in ihrem streng überwachten Machtbereich ein Ende setzen könnte.
    Betty erinnerte sich an Worte von Archibald Fleming, der seine Erfahrungen der Einsamkeit auf Baffin Island in seinem Tagebuch beschrieben hatte. Sie hatte diese Gedanken mit ihren eigenen Worten in ihrem Tagebuch notiert, mit Worten, die sie immer wieder aus der inneren Erstarrung rissen, die an solchen Winterabenden über ihre Seele kam, und wie ein warnender Schreckschuss in die Dunkelheit hineinwirkten:
    »Manche Männer in der Arktis werden durch den rein physischen Horror der Stille um sie herum gelähmt. Andere drehen durch und verlieren den Verstand. Nicht die Naturgewalten oder die Entbehrungen sind die Hauptgefahr, sondern schlichte Langeweile. Und Verzweiflung. Und wenn man sich selbst nicht mit einem Akt des Willens in den Griff bekommt und regelmäßige Gewohnheiten wie das Lesen oder ein Hobby pflegt, entwickelt sie einen nörgelnden inneren Frust, bis zum Zerreißen gespannte Nerven.«
    Betty nahm sich vor, ja nicht zu viel nachzudenken. Sie holte den letzten Brief ihrer Mutter aus der Schublade und las ihn zum wiederholten Mal. Es war in diesen Momenten schwer zu glauben, dass es dort draußen, irgendwo in der unerreichbaren Ferne, eine normale Welt gab. Mit Gänseblümchen auf dem Rasen, Lebensmittelgeschäften, mit Menschen, die man lieb hatte, Gartenstühlen auf der sonnigen Terrasse, einer Tageszeitung und Kaugummi am Kiosk.
    »Eine Welt, die weitergeht, als ob ich nie existiert hätte«, dachte sie. Dann stand sie auf.
    »So, Angela, ab ins Bett. Heute Abend kommt Dad bestimmt nicht mehr.«
    »Aber weckst du mich, wenn er in der Nacht kommt?«
    »Natürlich, mein Kind.«
    Betty ließ die Tür zum Kinderzimmer offen, setzte sich wieder in ihren Stuhl nahe am Ofen und las den Brief ihrer Mutter immer wieder, bis sie einschlief. Wenn sie aufgrund der Winterstürme tagelang wie in einem Gefängnis eingeschlossen war, kam der strengen Beachtung eines Tagesrhythmus besondere Bedeutung zu. Wer die Nacht zum Tage werden ließ, hatte irgendwann in der Monotonie des Wartens keine Lust mehr aufzustehen oder irgendwelche Pflichten zu erledigen.
    Betty war dankbar, dass die Kinder ihre ununterbrochene Zuwendung brauchten.
    Mitten in der darauffolgenden Nacht schlug das Wetter um. Der Wind wurde leise, so leise, dass der Sturm sich bis zum frühen Morgen völlig gelegt hatte und das Bellen aufgeregter Hunde aus der Ferne deutlich zu hören war.
    »Schlitten kommen! Schlitten kommen!«, ging der Schrei im Dorf herum.
    »Angela, wach auf und zieh dich schnell an! Die Hunde haben Gespanne gewittert!«
    Angela raste zur Haustür, wo ihre Mutter schon wartete. Das gefrorene Wasser schimmerte im Licht des Monds wie eine gigantische Glasplatte. Gestalten von Männern und Hunden zeichneten sich schon sichtbar gegen das leuchtende Eis ab.
    »Noch

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