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Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Titel: Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Vollkommer
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ignoriert hatte. Und wir sind hingegangen. Basta.«
    »Und jetzt kannst du ihnen auch von Kituligak erzählen, Mr Sperry, und warum er eine Bibel braucht und jemanden, der ihm beibringt, wie man sie liest.«
    Es gab ein paar Bücher mit übersetzten Gebeten, Hymnen und Bibelabschnitten, die in die Dialekte der Westarktis, Inuvialuktun und Inupiatun, in lateinischer Schrift übersetzt worden waren. Die paar Ähnlichkeiten, die zwischen diesem und dem Dialekt der Copper-Inuit existierten, reichten aber für eine umgehende Verständigung nicht. Für den Inuktitut-Dialekt der Ostarktis existierte bereits eine sogenannte »Syllabic«, eine Zwischenform zwischen Silbenschrift und Alphabet.
    Diese Zeichenschrift war die Erfindung eines Missionars, der die Sprache der Cree-Indianer Mitte des 19. Jahrhunderts anhand der britischen »Pitmans«-Kurzschrift zu Papier gebracht hatte. Jacks Copper-Eskimos mit ihrem Inuinaktun-Dialekt nützten all diese Entwicklungen aber nichts. Die Silbenschrift ihrer östlichen Verwandten konnten sie nicht lesen. In ihrem Dialekt gab es nur säkulare Texte in lateinischer Schrift; die Bibel und geistliche Bücher allerdings nicht. Wachstum im christlichen Glauben hing also tatsächlich von dem spärlichen, zum Teil nur einmal im Jahr stattfindenden Besuch des Minihitaks ab.
    »Ein Eskimo muss einen Gedanken nicht mit seinem Verstand begreifen, um von ihm berührt zu werden. Die Auswirkungen der Flüche zeigen, dass allein das gesprochene und gar das geschriebene Wort für sie Kraft enthält«, schrieb Jack nach seiner Begegnung mit Kituligak in sein Tagebuch. »Mir wird klar, dass ich kaum angefangen habe, mich in diese so andersartige Mentalität hineinzudenken. Man muss mit ihnen leben, richtig mit ihnen leben. Mir fiel heute die Geschichte mit der Postkarte ein. Damals lachte ich drüber. Jetzt ziehe ich eine wichtige Lehre daraus.«
    Aus seinem ersten Heimaturlaub hatte Jack eine Postkarte an eine Familie in Coppermine geschickt, deren Vater unter Migräne litt. Als er zurückkehrte, bedankte sich dieser Freund herzlich für die mächtigen Worte auf der Postkarte. Er habe die Karte gegen seinen schweren Kopf gehalten, sagte er, und die Kopfschmerzen seien verschwunden.
    »Wir müssen die Evangelien und sonstiges christliches Gedankengut in Bilder und Symbole übersetzen, die ihnen etwas bedeuten. Ich brauche ein Verständnis ihrer Welt, das in ihren Wortschatz eingehüllt ist. Damit sie nicht nur christlich angehaucht werden, sondern damit sich die Nachfolge Jesu in ihrem Alltag niederschlägt, mit den gleichen positiven und befreienden Auswirkungen wie damals in der Bibel.«

»Eine Sprache sprechen, die die Menschen verstehen«
    »Ich hab’s! Ein gut gebauter Windschutz ist unser Gott!«
    Jack versuchte, ein paar Karibuhaare, die überall zu finden waren, aus seinem Tee herauszufischen. Es war wieder Mug-up-Zeit, eine Rast auf der Reise nach Victoria Island. Es war Februar, die eisigen Winde schnitten durch die Luft, und die Männer hatten eine Eiswand errichtet, um im Windschutz etwas durchzuatmen.
    »Hey, Mr Sperry, es ist an der Zeit, dich für eine neue Jacke ausmessen zu lassen. Du hast ein ganzes Karibu in deinem Tee!«
    »Macht nichts, Alfred«, lachte Jack, »einige Haare hab ich schon über den Becherrand geblasen, den Rest trinke ich einfach mit.«
    Bis man zwei Schichten Bärenfellhandschuhe ausgezogen hatte, um mit nackten Fingern Karibuhaare aus dem heißen Tee zu fischen, hatte man keinen Appetit mehr auf den Tee.
    Nichts konnte mit der Isolierung eines Karibuparkas mithalten. Allerdings war Karibuhaut nicht lange haltbar. Die Schneiderin musste in regelmäßigen Abständen das Gewand erneuern. Nach nur drei Jahren wurden die Haare trocken und brüchig und fielen ab. Haare in der Suppe, Haare im Gulasch, Haare im Tee. Und bei der gelegentlichen Dusche beim Übernachten an einem Handelsposten ganze Büschel von Karibuhaaren zwischen den Zehen. Spätestens dann war klar, dass eine neue Jacke hermusste.
    »Was singst du da von einem Windschutz?«, fragte Alfred, als er sich neben Jack an die provisorische Eiswand lehnte und seinen Parka enger um seine Ohren zog. Jack blickte mit Ehrfurcht in die grenzenlose Weite, die ihn auch nach zehn Jahren in der Arktis immer wieder überwältigte. Die weiße Ebene wirkte blass in der gedämpften Helligkeit der Sterne, so weit das Auge reichte. Der Wind peitschte den Schnee in unzähligen kleinen Wirbelstürmen über die flache Ebene. Es

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