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Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Titel: Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Vollkommer
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war eine mondlose Nacht.
    »Das Wetter hat so viele Launen wie es Tage gibt. Jeder Blick in diese endlose Weite bietet eine neue Stimmung. Gestern schimmerte der Schnee. Heute tanzt er im Wind, und alles in einer monumentalen Stille, die einem Angst machen kann«, murmelte Jack vor sich hin. Er wandte sich wieder Alfred zu.
    »Aber jetzt zum Windschutz. Bei uns in Europa gibt es eine berühmte Hymne. Sie erzählt von dem Schutz, den Gott uns gibt, von seiner Treue. ›Eine feste Burg ist unser Gott‹ singen wir.«
    »Eine was ist er?«
    »Eine Burg. Genau das ist der Punkt. Du weißt nicht, was eine Burg ist, weil du es nicht wissen kannst. Das, was wir hier aus Schnee und Eis oder aus Holz bauen, bauen die Europäer aus Stein und Felsen. So auch eine Burg. In meinen Predigten habe ich schon oft erzählt, dass Gott so ähnlich ist wie dieser Windschutz, gegen den wir uns lehnen. Ich überlege mir gerade, ob wir aus dieser Idee ein Lied wie unsere alte Hymne machen können.«
    Jacks Vorhaben, die Evangelien und die Apostelgeschichte in die Muttersprache seiner Gemeinde zu übersetzen, sollte eine kräftezehrende Odyssee werden, die in jeder Hinsicht so mühselig sein würde wie seine strapaziösen Reisen durch die Wildnis. Noch problematischer als das Wirrwarr der verschiedenen Dialekte und Schriften der Arktis, die sich keinem Standardsystem anglichen, war die kulturelle Kluft zwischen dem biblischen Leben im altertümlichen Orient und dem Leben in gefrorenen Polargefilden. Nach und nach hatte er seine eigene Bibellektüre sinnbildlich mit einer dicken Schicht Schnee bedeckt und las nur noch durch die Schneeschutzbrillen seiner Gemeindemitglieder.
    »Das Theologiestudium hat doch etwas gebracht«, verkündete er eines Abends mit einem Hauch von Triumph in der Stimme, als er zwischen zwei Reisen für ein paar Tage zu Hause war.
    »So ein Bekenntnis aus deinem Mund«, neckte Betty, die gerade schmutziges Spülwasser in einen Eimer schüttete, während Jack am Esstisch einen Stoß alter Papiere durchstöberte.
    »Hier haben wir es. Die prägenden, allumfassenden 39 Artikel des Anglikanischen Grundgesetzes, im Jahr 1562 verfasst. Artikel Nummer 24 ist überschrieben: Of speaking in the congregation in such a tongue as the people understandeth. Vom Gebrauch einer Sprache in der Versammlung, die die Menschen verstehen. Das Gebot der Übersetzungsarbeit, ganze 500 Jahre alt. Ich stehe mit meinem Vorhaben in einer altehrwürdigen Tradition. Auch wenn hier in erster Linie das Sprechen und nicht das Schreiben der Sprache gemeint war.«
    Der Traum einer Bibelübersetzung in Inuinaktun war ihm inzwischen zu einem zwingenden Bedürfnis geworden. Die Erlaubnis der »British and Foreign Bible Society« in London, deren Aufgabe es war, weltweite Übersetzungsarbeiten in geordneten Bahnen zu halten, stellte nun das größte Hindernis dar. Jack musste handfeste Beweise liefern, dass er mit der Sprache und der Kultur des Volks vertraut genug war und das nötige Handwerkszeug besaß, um mit der Übersetzungsarbeit beauftragt zu werden. Er rang um geeignete Worte für einen Antrag auf die Erfüllung seines Traums.
    »Selbstverständlich ist die Aufgabe gewaltig, aus menschlicher Sicht sogar unmöglich«, schrieb Jack in seinem Antrag an die Bibelgesellschaft. »Und Sie haben recht. Hochwertige akademische Qualifikationen besitze ich nicht. Ich bin weder ein Sprachwissenschaftler noch bin ich in irgendwelchen anderen Fremdsprachen flüssig. Meine Motivation ist die anhaltende Liebe, die ich für diese Menschen habe, die mich nicht loslässt, die mich bewegt hat, mit meiner Familie zusammen auf vieles zu verzichten, um mein, unser Leben mit diesen kostbaren Glaubensgeschwistern zu teilen. In ihrem Auftrag wende ich mich an Sie mit der Bitte um Erlaubnis für eine Übersetzungsarbeit in den Inuinaktun-Dialekt. Die Vorteile liegen auf der Hand: Weitverstreute Siedlungen bekommen ein gemeinsames Buch, das sie mit den Grundlagen des christlichen Glaubens vertraut macht. Laienprediger können ausgebildet werden. Damit ist eine stabilere Gemeindearbeit am jeweiligen Ort gesichert. Außerdem bekommen diese Menschen eine Grundbildung in Lesen und Schreiben. Schon jetzt, geehrte Gentlemen, streckt die Zivilisation ihre Fühler auch nach diesem abgelegenen Teil der Erde aus. Mit einer gemeinsamen Schrift werden die Menschen das Werkzeug haben, von der Modernisierung ihrer Welt nicht überrumpelt zu werden, gleichzeitig ihre Kultur und ihre

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