Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis
dürfen nur auf dem Festland gegessen werden. An dunklen Wintertagen dürfen gewisse Kleidungsstücke nicht genäht werden, gewisse Spiele von den Kindern nicht gespielt werden. In manchen Gebieten dürfen Frauen keine Schutzbrillen tragen, und so geht es weiter. Es ist schwierig, durch einen Tag zu kommen, ohne aus Versehen diesen Geistern auf die Füße zu treten. Wenn du so ein Tabu (ein ›Aglektun‹) brichst, dann ist auf Anhieb eine Armee von beleidigten Geistern hinter dir her. Deshalb hat Kituligak so eine panische Angst, die durch nette Zusprüche nicht vertrieben werden kann. Es gab zum Beispiel die ›Tupilaks‹ …«
»Das waren ja die ganz bösen Geister, die von Schamanen vertrieben wurden«, ergänzte Jack.
»So war es. Nur die Schamanen konnten sie wahrnehmen, sie hockten im Eingang eines Iglus. Jeder Geist lebte in starker Konkurrenz mit anderen Geistern. Dass es sie wirklich gab, hab ich selbst einmal erlebt.« Er zögerte.
»Wirklich? Los, erzähl schon!«, flüsterte Jack neugierig.
»Eines Tages ging ein Schamane mit seinem Speer hinaus. Sagte, er wolle einem Tipulak, der den Tod eines Kindes verursacht hatte, den Kampf erklären. Einige Stunden später kehrte er zurück, erschöpft, beschmutzt, keuchend. Man sah das Weiße seiner Augen, so weit offen waren sie. Sein Speer triefte von Blut. So gerne hätte ich ihn begleitet und mit eigenen Augen gesehen, was er erlebt hatte.« Er hielt kurz inne. »Es gab viele solcher Geschichten in meiner Jugend, Mr Sperry. Diese Mächte waren – sind – echt.«
»Und deshalb fiel das Evangelium auf solchen fruchtbaren Boden.«
»Auch weil die ersten Missionare Medikamente dabeihatten«, erklärte Peter. »Ich vermute, Tabletten und Schmerzmittel wurden schnell als wirksamere Methode gegen Krankheiten und Schmerzen erkannt als die vergebliche Jagd nach bösen Geistern.«
Peter erzählte von der Schreckensherrschaft der Schamanen, die irgendwann in sich zusammenbrach. Skrupellose Schamanen missbrauchten die Verletzlichkeit der Menschen, um Macht auszuüben. Flüche und Gegenflüche wurden ausgesprochen, um Gegner oder Kritiker auszuschalten oder konkurrierende Schamanen aus Nachbarsiedlungen lahmzulegen. Krankheiten, Unfälle, eine schlechte Jagdsaison, ein Todesfall: Alles konnte einem Fluch zugeschrieben werden.
»Wie bei der Frau aus Holman«, sagte Jack und goss heißes Wasser aus dem kleinen Kochtopf in seinen Tee nach.
»Welche?«, fragte Peter.
»Die mich an ihr Krankenbett rief. Sie bestand darauf, dass der Arzt einen Fluch auf sie gelegt habe, sie würde demnächst sterben. Dabei hatte der arme Doktor nur mit der Hilfe eines Dolmetschers eine Diagnose vermittelt. Nichts, was ich ihr sagte, änderte ihre Überzeugung, dass sie sterben würde.«
»Und? Starb sie tatsächlich?«
»Gott sei Dank, nein. Sie machte auf dem Heimweg nach Holman einen Zwischenhalt in Coppermine. Wir beteten mit ihr und unterhielten uns intensiv. Plötzlich strahlte sie uns an und verkündete: ›Der Fluch ist weg!‹ Soweit ich weiß, lebt sie heute noch.«
Die zwei Männer fingen an, den Kerosinbrenner einzupacken und die Hunde einzuspannen.
»Weißt du, Peter, ich sehe in alledem eine Chance«, sagte Jack, bevor er auf den Schlitten stieg. »Dort, wo das gesprochene Wort Macht besitzt, hat auch das Wort Gottes eine umso größere Macht. Todbringende Flüche können gelöst werden, davon bin ich überzeugt. Das Wort Gottes muss aber zugänglicher gemacht werden. Auch im Alltag. Sie brauchen ihre eigene Bibel, Peter, in ihrer Sprache. Und einheimische Menschen, die ihnen beibringen können, wie man mit der Bibel lebt.«
»Sag ich dir schon lange, Mr Sperry«, grinste Peter.
»Manche Leute, die ich in der Heimat, in England, kenne, würden an dieser Stelle gleich schimpfen: ›Lieber Jack Sperry, warum kannst du diese armen Leute mit ihrer schönen, unverdorbenen Kultur und ihrer naturgebundenen Religion nicht einfach in Ruhe lassen? Ihnen ging es soooo gut, bevor du ihre selige, glückliche Ruhe gestört hast …‹«
Peter lachte laut, als Jack die belehrende Stimme seiner Kritiker nachahmte.
»Und was antwortest du ihnen, Mr Sperry? Sicher etwas Schlaues!«
Jack blickte ihn ernsthaft an.
»Nicht schlau, Peter, sondern wahr. Ich sage ihnen immer das Gleiche: Keine Person aus meiner Gemeinde hat jemals eine Entschuldigung dafür gefordert, dass ich und andere ihnen das Evangelium gebracht haben. Sie schrien nach Hilfe in einer Welt, die ihre Existenz
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