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Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Titel: Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Vollkommer
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mit jedem Fortschritt hatten sie immer weniger Hoffnung auf die Erfüllung ihrer Mission. Keine Menschenspuren waren zu sehen, kein Lebenszeichen irgendwo in der endlosen Dunkelheit um sie herum. Aber suchen mussten sie trotzdem.
    Manchmal ließen sie sich abwechselnd selbst zu den Hunden an den Schlitten spannen, um besser durch den Eisdschungel lenken zu können. Der Riemen des Geschirrs schnitt auch durch Fellschichten ins Fleisch, so kräftig mussten sie ziehen. Bald wurde Jacks Schulter wund und es fühlte sich bei jedem neuen Stoß so an, als ob seine Haut von glühendem Eisen versengt würde. Dazu kamen Rinnsale von Schweiß, die seinen Rücken herabliefen und klebrig-kalt wurden, sobald er eine Pause machte. Seine Muskeln brannten vor Erschöpfung. Aber eines durften sie nicht: aufgeben.
    Die Hunde hatten bei solchen Ausflügen genauso zu kämpfen. Sie hechelten, winselten, röchelten und versuchten bei jeder Gelegenheit, Schnee zu schlucken, um den lähmenden Durst zu löschen, der sie plagte. Weil sie so viel Flüssigkeit schluckten, konnten sie dem Zwang nicht immer widerstehen, bei jeder Eissäule eine kurze Pause zu machen und eine kleine Visitenkarte zu hinterlassen. Für die ohnehin angespannten Nerven der Hundeführer brachten diese Hundepausen das Fass zum Überlaufen und sie mussten sich beherrschen, um nicht auf die Hunde mit der Peitsche einzuschlagen.
    Die Suche war umsonst. In einem letzten verzweifelten Versuch rückte die Suchmannschaft am nächsten Tag mit frischen Hunden noch einmal aus. Spätnachts erst verabschiedeten sich die abgekämpften Männer voneinander. Aber Jacks müde Ohren spitzten sich plötzlich, als einer der Männer zum anderen rief: »Inukhiungnialekutin akagu?«, was bedeutete: »Gehst du morgen auch nach dem Menschen jagen?«
    »Moment mal, kannst du den Satz bitte wiederholen?«, rief Jack.
    »Inukhiungnialekutin akagu?«, wiederholte der Mann überrascht.
    Jack verabschiedete sich schnell, trotz Schmerzen und Muskelkater am ganzen Leib hellwach, und schlich sich leise ins schlafende Missionshaus. Immer noch in mehrere Schichten eisbedecktes und vom Kampf beschmutztes Fell eingehüllt, setzte er sich an seinen Schreibtisch und schrieb die Worte auf:
    »Inukhiungnialekutin akagu?«
    Diese Worte bedeuteten eine Suche, die Leben retten und nicht zerstören sollte.
    Der verlorene Ehemann wurde nie wieder gesehen. Die Natur verschluckte ihn einfach. Kein Mensch würde je erfahren, welches Schicksal ihn ereilt hatte, an welchem Ort er bis zuletzt auf Rettung gehofft hatte und welche Gedanken ihn bis zum Schluss bewegten. Ob er, in der Eiswüste dem Tod ins Gesicht blickend, wohl noch ein Gebet gesprochen hatte? Die zermürbende, gefährliche Suchaktion schien umsonst gewesen zu sein. Aber Jahre später noch setzten sich viele Copper-Eskimos nur aufgrund Jacks zündender Idee für seine Übersetzung der »Menschenfischer« mit dem Mandat ihres Herrn auseinander, verlorene Menschen mit der Liebe des Vaters zu suchen.

    Ein Gruppenbild mit hungernden Menschen ist ein herausforderndes Motiv für jeden Fotografen und Zeitungsreporter. Einmal kam Jack in den zweifelhaften Genuss, Menschen abzulichten, die dem Hungertod knapp entronnen waren. Er tat es nur, weil sich diese Menschen ein Bild von ihrer spektakulären Rettung als Andenken wünschten und mit dem Ziel, die stets lauernde Bedrohung durch den Hunger zu dokumentieren, die die Arktisbewohner immer wieder in panische Angst versetzte.
    Die Eskimofamilien in »Ennadai Lake«, die in ihren heruntergekommenen Iglus gesessen und nur noch auf den Tod gewartet hatten, schluchzten vor Erleichterung und Freude, als sie die Motoren eines kleinen Fliegers aus der Ferne wahrnahmen und zusahen, wie die Maschine auf den See aufsetzte, um ihnen die Nachricht zu bringen, dass Hilfe unterwegs war. Nur noch eine Nacht warten. Bis morgen am Leben bleiben.
    In den Küstenregionen der Arktis war Nahrung auch in schwierigen Zeiten zugänglicher als in der Arktismitte, gab es doch dort zu jeder Jahreszeit eine Auswahl an Fischen, Walrossen und Robben oder sogar manchmal alle drei auf einmal. Nur bei anhaltend schlechtem Wetter, wenn die Gewässer durch Schneeverwehungen und Eisbarrieren für Hund und Schlitten unerreichbar wurden, wurde die Versorgung knapp.
    Aber auch in den besten Zeiten war es nicht einfach, stundenlang bei eisigen Temperaturen in der Nähe von Robben-Luftlöchern zu lauern in der Hoffnung, dass eins dieser begehrten Säugetiere

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