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Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Titel: Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Vollkommer
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hochkommen würde, um Luft zu holen – und dann auch noch gerade an dem Loch, neben dem sich der Jäger aufhielt.
    Im Inland wurde es dann kritisch, wenn die Karibuherden ihre Wanderwege durch die Wildnis überraschend änderten. Ein einziges Mal Pech bei der Jagd konnte eine Tragödie auslösen. Eine Familie samt Hunden brauchte im Jahr 300 Karibus, um zu überleben. Vorräte waren schnell verbraucht und täglich mussten riesige Mengen von Fleisch herangeschleppt werden. Mal schlug das Schicksal rasch und mit Gewalt zu, mal als langsame Qual. Mehr als einmal war Jack mit seinem Begleiter und Hundegespann auf die Überreste von Schneehäusern gestoßen, zwischen ihnen Haushaltswaren, Kleidungsstücke und menschliche Knochen verstreut. Stumme Zeugen einer Hungersnot, die eine ganze Siedlung ausgelöscht hatte. Geschwächte menschliche Körper wie auch Leichen waren für herumwandernde Wolfsrudel ein gefundenes Fressen.
    Nach Unterbrechungen der Jagdroutine, ob durch Wetter oder durch veränderte Wanderrouten, konnte ein tödlicher Kreislauf in Gang kommen: Nur satte, gesunde Hunde konnten schwer beladene Schlitten ziehen. Sobald die Hunde schwach wurden, war das potenzielle Jagdrevier automatisch kleiner und damit die Wahrscheinlichkeit geringer, Tiere zu finden. Ohne Tierspeck gab es außerdem kein Futter für die Lampen, also kein Licht und keine Wärme. Innerhalb von Tagen konnte eine ganze Siedlung ins pechschwarze Nichts versinken. Szenen wie aus einem Horrorfilm waren die Folge: blanke Angst in den Gesichtern der Dorfbewohner, jung und alt, die zusammen in ihren eiskalten, unbeleuchteten Schneehäusern hockten. Die blutigen Kadaver von Schlittenhunden draußen verstreut, die zu Dutzenden eingingen, nachdem sie vor lauter Hunger in den Wahnsinn getrieben worden waren und sich gegenseitig zerfleischt hatten.
    Jack war zur Zeit der Hungersnot in Ennadai Lake mit dem damaligen Bischof der Arktis im östlichen Teil der Diözese mit einem einmotorigen Flieger unterwegs gewesen, um verschiedene Siedlungen zu besuchen. Die zwei Männer hatten sich verabschiedet und Jack sollte nach Yellowknife fliegen, bevor ihn die letzte Etappe seiner Reise zurück nach Coppermine bringen würde. Als sich der Flieger schon startklar in Position brachte und Jack sich erleichtert aufmachte, um die kleine Piste zu überqueren und an Bord zu gehen, meldete sich ein Regierungsbeamter per Funk.
    »Ist Mr Sperry noch da? Ist Mr Sperry noch da?«, brüllte seine hektische Stimme durch das Knistern und Knacken eines kaum vorhandenen Funkempfangs hindurch. Nach mehreren Wiederholungen war die Nachricht klar: Der Missionar sollte den Piloten bitten, einen Zwischenstopp an einer Wetterstation neben Ennadai Lake zu machen, etwa 600 Kilometer von Arviat, damals Eskimo Point genannt, entfernt. Dort seien einige Familien am Verhungern. Jack sollte sie informieren, dass ein Flieger der »Royal Canadian Airforce« sie am folgenden Tag abholen und in Sicherheit bringen würde. Sie sollten noch eine Nacht durchhalten und nicht den Mut verlieren.
    Der Anblick, der Jack und seinen Piloten bei Ennadai Lake erwartete, traf sie bis ins Mark. Etwa 15 Männer, Frauen und Kinder stolperten beim Geräusch der Motoren aus den zerfallenen Eisschalen alter Iglus heraus, deren bröckelnde Wände von Plastikplanen überdeckt waren. Eingefallene Gesichter, magere Körper, Beine und Arme wie Knochen, Augen, die die schweigsamen Schreckensodysseen erschütterter Seelen widerspiegelten. Solch verwahrloste Blicke hatte Jack in seinem ganzen Leben noch nie gesehen. Jack strauchelte durch seine Nachricht in Worten, die sein Dialekt der westlichen Arktis mit dem dieser Menschen gemeinsam hatte. Im kleinen Flieger könne er sie nicht mitnehmen, erklärte er, aber morgen käme ein größeres Flugzeug, das sie in ein Lager bringen würde, in dem es Essen gab. Die gestrandete Gruppe stürzte sich auf die wenigen Säcke Konserven, die Jack in letzter Minute ins Flugzeug mitgenommen hatte, und erzählte ihre traurige Geschichte. Die Karibus waren einfach nicht gekommen. Kein einziges Tier sei auf der üblichen Wanderungsroute zu finden gewesen. Die Hunde waren schon längst verspeist worden, und die Eskimos waren gerade dabei, das Fell von Karibuhaut abzukratzen und die Haut in Vierecke zu schneiden, um diese auch zu essen.
    Jacks größter Schock stand noch bevor.
    »Aber ihr habt doch nebenan einen See, gibt es da keinen Fisch?«, fragte Jack, als er merkte, dass seine neuen

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