Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis
es die Regierung mit einer Kultur zu tun, in der es noch nie amtliche Eintragungen von Geburten, Eheschließungen und Todesfällen gegeben hatte. Familienverbände hatten keinen einheitlichen Nachnamen, und so war es schwierig, Akten über die Entwicklung einer Bevölkerung zu führen. Eltern, deren Kinder krank wurden, gaben diesen oft einen neuen Namen in der Hoffnung, die Krankheit dadurch zu überlisten und durch die neue Identität zu vertreiben.
Es herrschte reger Betrieb in Coppermine, als die Grippe mal wieder zuschlug. Kräfte der Canadian Royal Mounted Police, Hudson-Bay-Mitarbeiter, Regierungsangestellte wie auch Arbeiter der anglikanischen und der katholischen Missionen arbeiteten unermüdlich Seite an Seite, während Scharen von Siedlungsbewohnern in müden Schlittenverbänden auf der Suche nach Medikamenten in Coppermine eintrafen. Für einige Eskimos kam die Hilfe zu spät.
Es war wieder der optimistische Alec, nie aus der Ruhe zu bringen, der Jack tröstete.
»Jetzt können wir wenigstens etwas dagegen unternehmen, Mr Sperry. Schau, wie dankbar die Menschen für eure Liebe und Fürsorge sind.«
»Du bist wahrhaftig ein Phänomen, lieber Alec. Weißt du was? Ich habe den Eindruck, dass du gegen die schlimmste aller Krankheiten immun bist. Und zwar gegen Bitterkeit. Alle Achtung. Alles was wir tun ist, Krankheiten zu behandeln, die unsere hochgepriesene Zivilisation mitgebracht hat. Das ist kein großer Verdienst.«
Etwas »dagegen« zu unternehmen war nur bedingt möglich. Kaum eine Stunde ging vorbei, ohne dass sich nicht ein neues Schlittengespann langsam in die Siedlung schleppte. Immer wieder stieg Jack ein Kloß in den Hals, wenn er daran dachte, wie sehr sich die jetzige Stimmung von der überschäumenden Freude unterschied, die nur wenige Wochen davor bei der Weihnachtsversammlung geherrscht hatte. Die Hunde winselten und ließen ihre Köpfe hängen, sanken vor Erschöpfung zu Boden. Eltern, oft selbst angeschlagen, wurden von helfenden Händen gestützt, während sie kranke Kinder vom Schlitten hoben.
»Ich bin zwar noch schwach, aber fit genug, um irgendwo mitzuhelfen«, sagte ein Polizist, nachdem Jack ihn in die warme Küche des Missionshauses geführt hatte, die über Nacht so etwas wie eine Krisenzentrale geworden war. Ein improvisiertes Lazarett war im Schulhaus untergebracht. Die Epidemie hatte klein begonnen: mit zwei Erkrankungen. Innerhalb weniger Tage lag fast ganz Coppermine flach. Inzwischen hatte sich die Krankheit in die umliegenden Siedlungen ausgebreitet.
»Weißt du, was du machen kannst?«, antwortete Jack. »Die Hunde der anreisenden Gruppen versorgen. Wenn du warm genug eingepackt bist, geh bitte hinaus und hilf den Familien, ihre Hunde anzuketten. Sage ihnen, sie sollen sich sofort im Schulhaus melden und sich um ihre Hunde keine Gedanken machen. Nebenher kannst du überlegen, wer diese riesige Hundeschar womit füttern soll!«
Wer noch auf den Beinen war, legte Hand an und half mit. Über die Infektionsgefahr wurde nicht geredet. Alle waren infiziert, bis auf die Weißen, Südländer und einige Coppermine-Bewohner, die als Kinder geimpft worden waren. Betty blieb mit ihren Kindern zu Hause, denn ihre Babysitter waren alle krank. Sie kochte und backte ununterbrochen, um die Patienten wie auch die zusätzlichen Krankenpfleger und -schwestern zu versorgen, die für den Notfall eingeflogen worden waren. Jack war der Mann für alles. Mal dolmetschte er für besuchende Ärzte, mal leerte er Bettpfannen, mal schrubbte er Böden mit Desinfektionsmittel. Es war ein Wettlauf gegen Kräfte, die mindestens so viel menschliches Leben in der Arktis zerstörten wie die geballte Wucht willkürlicher Naturgewalten.
»Die Hunde der Familie haben Futter, aber das kleine Mädchen ist tot. Der Vater traut sich nicht zu seiner Frau zu gehen. Er ist selbst völlig geschwächt. Sie kam schon letzte Woche krank hier an, ihr geht es aber besser. Er will, dass du es ihr sagst, Mr Sperry. Du kannst so was besser. Sie heißt Flossie.«
Es war der Polizist, der gelegentlich einen Abstecher ins Missionshaus machte, um Neuigkeiten der anrückenden Gespanne zu bringen.
Jemandem eine traurige Nachricht zu überbringen war nie Routine. Jack wusste später nicht mehr, wie lange er auf dem Boden neben der Matratze der untröstlichen Mutter saß, die er von Besuchen in den Siedlungen schon ein wenig kannte, und ihre zitternde Hand in seiner hielt.
»Und wie hieß sie, deine Tochter?«,
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