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Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Titel: Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Vollkommer
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Freunde mit etwas Essen im Magen und viel Dankbarkeit im Herzen gesprächiger wurden.
    Empörter Protest war die Reaktion.
    »Fisch können wir nicht essen! Niemals!«
    »Warum denn nicht? Ihr wärt fast verhungert und niemand hätte es gewusst!«
    Alle versuchten gleichzeitig, ihn aufzuklären.
    »Wenn wir Fische fangen, dann senden die Karibugeister ihre Karibus nicht in unsere Richtung! Es war schon immer so. Dann verhungern wir erst recht!«
    Sie waren tatsächlich nicht auf den Gedanken gekommen, im See nach Fischen zu suchen, so sehr hielt die panische Angst vor Geistern und tödlichen Tabus sie im Griff. Lieber Karibuleder essen und danach verhungern, als die Ablehnung irgendwelcher Tiergeister auf sich zu ziehen.
    Trotzdem wollten sie unbedingt, dass der historische Augenblick ihrer Rettung auf einem Gruppenfoto festgehalten wurde.
    »Aiyungnangman, Mr Sperry«, antwortete Alec, als Jack ihm nach seiner Rückkehr nach Coppermine mit Betroffenheit von dem Zwischenfall erzählte.
    » Aiyungnangman«: Dagegen kann man nichts machen. Das Leitmotiv eines fatalistischen Weltbildes.
    »Und was haben wir Christen dagegenzusetzen, Alec? Gerade in solchen Grenzsituationen?«
    Alec schwieg kurz. Er blickte in die Ferne, als ob er die Wand des kleinen Wohnzimmers im Missionshaus nicht sehen würde, wo er mit Jack gerade zusammensaß.
    »Einmal kamen auch bei uns im Spätsommer die Karibus nicht wie erwartet. Die Kinder schrien schon vor Hunger. Jeden Tag gingen wir Männer, jeder mit einem Hund, hinaus, um nach Tieren zu suchen. Endlich sah ich vier Karibumännchen auf mich zukommen. In meinem Gewehr steckte noch eine Kugel, die ich abfeuern musste, um die Waffe neu laden zu können, aber die Kugel verfehlte das Ziel. Und die Hülse, die noch im Gewehr steckte, war festgeklemmt, weder mit meinem Fingernagel noch mit einem Taschenmesser konnte ich sie entfernen, und die Tiere kamen immer näher. Mit der Hülse darin konnte ich das Gewehr nicht neu laden.«
    »Was hätte ich, was hätten meine Eltern früher in diesem Moment gesagt?«, fuhr er fort.
    » Aiyungnangman«, antwortete Jack. »Ihr hättet gedacht: Wir haben ein Tabu gebrochen, einen Fluch auf uns gezogen.«
    »Nicht nur das. Wir hätten die Jagd sofort abgebrochen und uns auf den Tod vorbereitet, so gut es nur geht. Den Kindern noch alle Überreste gegeben. Und gehofft, dass es schnell geht.«
    »Aber?«, fragte Jack hoffnungsvoll.
    »Aber, Mr Sperry? ›Aber‹ ist das wichtigste Wort des Evangeliums! Aber weil ich Christ geworden war, hatte ich einen anderen Weg. Ich kniete mich hin und bat Gott um seine Hilfe. Ich dachte an die weinenden Kinder. Plötzlich fiel mir ein, dass sich in dem Lederband, das mein Hund um seinen Hals trug, eine kleine, dünne Platte aus Stahl zur Befestigung des Halsbandes befand. Ich schnitt das Band mit meinem Taschenmesser auf und konnte das Plättchen verwenden, um die Hülse herauszuhebeln. Danach konnte ich das Gewehr neu laden und alle vier Karibus erschießen. Und wir haben alle überlebt!«

Neue Dämonen, neue Ängste
    »Genau das, was ich befürchtet habe«, murmelte Jack. »Es gibt Geister, die noch schwieriger zu bändigen sind als die Tier- oder Wettergeister, die Alecs Karibus entkommen lassen wollten. Das sind die, die wir Weiße selbst mitgebracht haben. Heimtückischer als alle traditionellen zusammengenommen.«
    Die »Geister«, von denen Jack sprach, hatten Namen wie Diphtherie, Masern, Polio, Scharlach, Keuchhusten, Grippe, Tuberkulose und Mumps. Anfang der Siebzigerjahre brachten die Weißen dann auch sexuell übertragbare Krankheiten mit.
    Nicht zum ersten Mal in der Geschichte Coppermines schlug diesmal eine Grippe-Epidemie mit hartnäckiger Gewalt um sich, wie auch in anderen Regionen. Die Reue wegen der fahrlässigen Einführung tödlicher Krankheiten in Lebensgemeinschaften, die keine Immunität gegen sie hatten, hatte immerhin zu dem kollektiven Bemühen geführt, hier Hilfe zu leisten. Die Regierung versuchte, Impfprogramme durchzuführen, in den Handelsposten medizinische Stützpunkte mit Röntgengeräten einzurichten und immer wieder qualifizierte Kräfte hinzuschicken. Diese sollten die Menschen in den Siedlungen vorbeugend untersuchen und vor allem gegen die gefährlichste aller Arktiskrankheiten, Tuberkulose, impfen. Leichter gesagt als getan. Die Eskimos sahen erst dann die Notwendigkeit einer aufwändigen Schlittenfahrt zu einer medizinischen Ambulanz, wenn es schon zu spät war. Außerdem hatte

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