Am Rande Der Schatten
hatte versprochen, sie zu brechen. Das war nicht die Art von Versprechen, die er vergaß.
In Wahrheit fühlte Vi sich bereits gebrochen. Sie verlor den Biss. Es war eine Sache, sich wegen der Ermordung Jarls schlecht zu fühlen. Jarl hatte sie am Leben erhalten. Er war ein Freund gewesen und jemand, der niemals die Benutzung ihres
Körpers verlangt hätte. Er hatte keine Bedrohung dargestellt, weder in körperlichem noch in sexuellem Sinne.
Kylar war eine ganz andere Geschichte, und selbst jetzt, während sie langsam durch die Straßen Cenarias ritt, die Kapuze eng ums Gesicht gezogen, konnte Vi nicht aufhören, an ihn zu denken. Es tat ihr wirklich leid, dass er tot war. Vielleicht war sie sogar traurig deswegen.
Kylar war ein verdammt guter Blutjunge gewesen. Einer der besten. Es war eine Schande, dass er durch einen Pfeil getötet worden war, wahrscheinlich aus einem Versteck heraus. So etwas konnte nicht einmal ein Blutjunge verhindern.
»Das ist es«, sagte Vi laut. »Es könnte jedem passieren. Es macht mich auf meine eigene Sterblichkeit aufmerksam. Es ist einfach eine Schande.«
Es war nicht nur eine Schande. Das war es nicht, was sie empfand, und sie wusste es. Kylar war irgendwie süß gewesen. Wenn man die Worte »irgendwie süß« mit einem geistigen Hohngrinsen denken konnte. Irgendwie charmant. Nun, nicht so charmant. Aber er hatte sich Mühe gegeben.
Wirklich, es war Ulys Schuld. Uly hatte die ganze Zeit davon geredet, wie großartig er sei. Verdammt.
Also hatte sie vielleicht die Wunschvorstellung gehegt, Kylar könnte der Mann sein, der sie verstehen konnte. Er war ein Blutjunge gewesen, und irgendwie hatte er dieses Geschäft hinter sich gelassen und war zu einem anständigen Menschen geworden. Wenn er es tun konnte, konnte sie es vielleicht auch.
Ja, er war ein Blutjunge gewesen, aber niemals eine Hure. Du denkst, er hätte das verstehen können? Es verzeihen können? Klar. Gönn dir nur deine kleine Schwärmerei, Vi. Heul dir die Augen aus wie ein kleines Mädchen. Rede dir nur ein, du hättest eine Elene sein, ein kleines
Heim schaffen und ein kleines Leben leben können. Ich bin davon überzeugt, es hätte ungeheuren Spaß gemacht, Bälger an der Brust zu nähren und Babydeckchen zu häkeln.
Die Wahrheit ist, du hattest nicht einmal den Mut zuzugeben, dass du schwärmerische Gefühle für Kylar hegtest, bevor du wusstest, dass er tot war und keine Gefahr mehr darstellte.
All die Dinge, die Vi immer an Frauen gehasst hatte, zeigten sich plötzlich in ihr selbst. Um Nysos willen, sie vermisste sogar Uly. Wie eine verdammte Mutter .
Nun, das war nett. Buhu. Fühlen wir uns jetzt besser? Denn wir haben immer noch ein Problem. Sie saß draußen vor Drissa Niles Laden auf ihrem Pferd. Diese Schlampe von einer Hexe hatte gesagt, die Zauber seien gefährlich, dass Drissa jedoch vielleicht in der Lage sei, Vi von der Magie des Gottkönigs zu befreien. Während Vi nun den bescheidenen Laden betrachtete, dachte sie, dass sie ihr Geld auf den Gottkönig setzen würde.
Der Gottkönig würde sie zur Sklavin machen. Drissa Nile würde sie entweder befreien oder sie töten.
Vi ging hinein. Sie musste eine halbe Stunde warten, während die beiden winzigen, bebrillten Niles sich um einen Jungen kümmerten, der Feuerholz gespalten und sich dabei eine Axt in den Fuß geschlagen hatte, aber nachdem seine Eltern ihn nach Hause gebracht hatten, sagte Vi, dass Schwester Ariel sie geschickt habe. Die Niles schlossen sofort den Laden.
Drissa setzte sie in eine der Patientenräume, während Tevor einen Teil des Daches zurückzog, um Sonnenlicht einzulassen. Sie sahen einander sehr ähnlich, ausgebeulte Kleider über kleinen, klobigen Körpern und ergrauendes, braunes Haar, das so glatt war wie Weizenhalme, Brillen und je ein einzelner Ohrring. Sie bewegten sich mit der unbekümmerten Vertrautheit langer Partnerschaft, aber Tevor Nile ordnete sich seiner
Frau offenkundig unter. Vi schätzte, dass beide über vierzig waren, aber der gelehrtenhafte Tevor wirkte permanent verwirrt, während Drissa keinen Zweifel daran aufkommen ließ, dass sie sich ständig aller Dinge bewusst war.
Sie nahmen links und rechts von ihr Platz und hielten sich hinter ihrem Rücken an den Händen. Drissa legte ihre freie Hand in Vis Nacken, und Tevor berührte mit den Fingern die Haut ihres Unterarms. Ein kühles Kribbeln überlief Vi.
»Woher kennt Ihr Ariel?«, fragte Drissa, deren Augen hinter ihren Brillengläsern überaus
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