Am Rande Der Schatten
Dinge, bei denen wir uns nicht sicher sein können.«
»Ah, wie die Götter«, erwiderte Jarl.
»Es spielt keine Rolle, ob du dir sicher bist, dass alles, was du sagst, der Wahrheit entspricht. Es ist wichtig, dass du leidenschaftlich daran glauben willst, dass sie wahr sind - denn dann kannst du überzeugend sein. Und am Ende ist das, was zählt, nicht die Frage, ob die Mädchen dir deine Ausführungen glauben. Was zählt, ist, dass sie an dich glauben.«
Es war die Art von Bemerkung, die die alte Momma K gemacht hätte. Jarl war ein wenig enttäuscht. Nach dem Staatsstreich und der Invasion schien sie sich verändert zu haben - nachdem Kylar sie vergiftet und ihr das Gegenmittel gegeben hatte. Vielleicht machte der Druck, in das Antlitz von gnadenlos Bösem schauen zu müssen, ihre Hoffnung zunichte. Aber ihr Pragmatismus klang aufrichtig, daher predigte Jarl weiter.
Jarl hatte keinen Sex mehr gehabt, seit er Shinga geworden war. Er hatte mit keinem Mann mehr geschlafen, seit er in der Nacht der Invasion Stephans Haus verlassen hatte, aber er hatte auch mit keiner Frau geschlafen. Er hatte sein ganzes Leben überlebt, indem er tat, was er tun musste, er hatte immer an seinem Netz von Freunden und Einfluss gearbeitet, hatte immer in die Zukunft geblickt, wenn er sich nicht mehr als Stricher würde verdingen müssen.
Diese Zukunft war so plötzlich eingetreten, dass er nicht wusste, was er damit tun sollte. Die Freiheit lag nutzlos in seinen Händen. Er wusste nicht, wie er sich fühlen sollte. Es erinnerte ihn an haranische Eisenbullen. Er hatte natürlich niemals einen gesehen, aber es hieß, dass man die jungen Kälber einfing und mit dicken Ketten an einen Pfahl fesselte. Wenn die Eisenbullen ausgewachsen waren - mehr als fünf Meter hoch an ihren mächtigen Schultern -, konnten sie die
Ketten zerreißen, aber sie taten es nicht. Ihre Pfleger fesselten sie mit dünnem Seil. Die Eisenbullen waren so davon überzeugt, nicht freikommen zu können, dass sie es niemals versuchten. Jarl war so lange an Sex und die Notwendigkeit gefesselt gewesen, seine Kundschaft zu erfreuen, dass er sich jetzt geschlechtslos fühlte. Er hatte zuvor nie eine Wahl gehabt. Die meisten seiner Kunden waren Männer gewesen, aber es hatte auch Frauen gegeben, attraktive und weniger attraktive. Jetzt, da er eine Wahl hatte, konnte er sich nicht entscheiden. Er konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob er Männer oder Frauen bevorzugt hätte, hätte man ihm nicht das Leben als Hure aufgezwungen.
Die Mädchen in den Bordellen behandelten ihn jetzt anders. Sie sahen ihn anders an. Sie kokettierten mit ihm.
Es war beängstigend. Flirts waren mit Forderungen verbunden. Es gab passende und unpassende Reaktionen zu erlernen, und er kannte sich mit den Regeln des Sex außerhalb eines Bordells nicht aus. Seine Stammkunden hatten immer gesagt, Sex sei eigentlich unbefriedigend - aber andererseits konnten ihre Erfahrungen auch nicht direkt repräsentativ sein, denn nicht alle Menschen waren Stammgäste in einem Bordell, nicht wahr?
Er verlor die Konzentration. Er durfte jetzt nicht darüber nachdenken. Hoffnung musste als Gesamtpaket verkauft werden.
»Von allen Frauen aus dem Labyrinth«, fuhr Jarl fort, »habt ihr das größte Glück gehabt. Ihr hattet das Glück, hier zu Huren zu werden.« Er schüttelte den Kopf. »Das Glück, überhaupt zu Huren zu werden. Vor sechs Monaten hätten die meisten von euch eher die Straße überquert, als an einer Hure vorbeizugehen. Jetzt seid ihr selbst Huren, und ich bin
der Shinga, und die Sa’kagé tun noch immer dieselben verdammten Dinge.
König Ursuul denkt, ihr wärt am Ende. Er plant, es dem Winter zu überlassen, die meisten Bewohner des Labyrinths zu töten. Er denkt, dass alle, bis es zu einem Aufstand wegen der Nahrungsmittelknappheit kommt, so schwach sein werden, dass seine Soldaten keine Probleme mit uns haben werden. Er denkt, dass die Sa’kagé zu passiv und zu gierig seien, um ihn aufzuhalten. Er beabsichtigt, uns zu spalten, indem er uns Brocken von seinem Tisch hinwirft, damit wir einander vernichten. Das Komische ist«, fügte Jarl hinzu, »dass er recht hat. Wir haben erfahren, dass er im Frühling eine weitere Armee und einige tausend Siedler herbringen will, allesamt Männer. Er beabsichtigt, alle Bewohner des Labyrinths zu töten, bis auf euch. Wieder werdet ihr diejenigen sein, die sich glücklich schätzen können. Ihr werdet mit dem Khalidori verheiratet werden, der euch
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