Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Am Rande Der Schatten

Titel: Am Rande Der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brent Weeks
Vom Netzwerk:
er log.
    Vielleicht wurde er zu einem Hu Gibbet. Vielleicht brauchte er das Töten jetzt. Vielleicht wurde er zu einem Ungeheuer.
    Jeden Tag arbeitete er mit Tante Mea. Durzo hatte Kylar selten gelobt, daher war ihm nie bewusst gewesen, wie viel er von dem alten Blutjungen gelernt hatte, aber während Kylar Stunden mit Tante Mea verbrachte, ihre Kräuter katalogisierte und einige davon neu verpackte, damit sie länger hielten, jene Kräuter wegwarf, die ihre Kraft verloren hatten, und den Rest mit Daten und Notizen über ihre Herkunft versah, begann er zu begreifen, wie viel er tatsächlich wusste. Er war nicht annähernd so tüchtig wie Durzo, aber der Mann hatte ihm auch einige Jahrhunderte vorausgehabt.
    Er musste jedoch vorsichtig sein. Tante Mea benutzte viele Kräuter als Medizin, die er als Gift benutzt hatte. Sie hatte einmal die Wurzeln eines Silberblatts beiseitegelegt und erklärt, sie seien zu gefährlich, und dass sie nur die Blätter benutzen könne. Ohne nachzudenken, hatte er eine Tabelle der tödlichen Dosen der Blätter, Wurzeln und Samen der Pflanze und ihrer jeweiligen Zubereitung gezeichnet, sei es als Tinktur, als Pulver, als Paste oder Tee. Dazu hatte er die Dosis verzeichnet, abhängig von Körpergewicht, Geschlecht und Alter der Patienten - um ein Haar hätte er »Leichen« geschrieben. Als er aufblickte, sah Tante Mea ihn an.
    »Ich habe noch nie eine so detaillierte Tabelle gesehen«, sagte sie. »Das ist … sehr beeindruckend, Kylar.«
    Danach versuchte er, vorsichtiger zu sein, aber sie stießen immer wieder auf die gleichen Probleme. Im Laufe seiner Karriere hatte Durzo Tausende von Malen mit allen möglichen Kräutern experimentiert. Wenn er eine Leiche hatte, die
er ohne Zeitdruck töten sollte, hatte er fünf oder sechs verschiedene Kräuter ausprobiert. Kylar lernte langsam zu schätzen, dass Durzo wahrscheinlich mehr über Kräuter gewusst hatte als irgendein anderer lebender Mensch - obwohl er im Allgemeinen den Auftrag gehabt hatte, gesunde Menschen zu töten, sodass Kylars Wissen manchmal nutzlos war.
    Eines Tages kam ein verzweifelter Mann in Tante Meas Laden. Sein Herr starb, und vier andere Ärzte hatten ihm nicht helfen können. Tante Mea übernahm manchmal Aufträge, die über die Arbeit einer Hebamme hinausgingen, daher war der Dienstbote zu ihr gekommen, weil sie seine letzte Chance war. Aber Tante Mea war nicht zu Hause gewesen. Kylar wollte nicht in das Haus des Kranken gehen, aber nachdem er den Diener befragt hatte, hatte er einen Trank hergestellt. Später hatte er gehört, dass der Mann genesen war. Es war ein seltsam wärmendes Gefühl gewesen. Er hatte ein Leben gerettet, einfach so.
    Trotzdem hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er von Tante Meas Wohltätigkeit lebte. Er hatte mehrere Wochen damit verbracht, ihren Laden zu ordnen, denn trotz ihrer Gabe für die Arbeit mit Menschen waren ihre organisatorischen Fähigkeiten miserabel. Aber er hatte nichts Wertvolles für sie getan. Er trug ihr kein Geld ein. Elene hatte sich eine Stellung als Magd besorgt, aber die Bezahlung reichte kaum für ihr Essen. Braen wurde immer griesgrämiger und murmelte Bemerkungen über Schnorrer, und Kylar konnte es ihm nicht verdenken.
    Kylar strich mit den Fingerspitzen über Vergeltung. Wann immer er die Klinge umschnallte, handelte er als Richter und Henker. Die Klinge war zum Emblem seines Eidbruchs geworden.

    Nicht heute Nacht. Kylar legte das Schwert zurück in seinen Kasten, sammelte seine Magie in sich und sprang aus dem Fenster. Er überquerte die Dächer auf der Suche nach Goldlöckchens Haus und verbannte alle anderen Gedanken aus seinem Kopf. Er musste sich den ganzen Tag lang sorgen; er würde sich nicht auch noch seine Nächte verderben lassen.
    Die ganze Familie war da, schlafend in ihrer kleinen, aus einem einzigen Raum bestehenden Hütte. Kylar wandte sich gerade zum Gehen, als etwas ihn innehalten ließ. Das Mädchen und ihr Vater schliefen. Die Lippen der Mutter bewegten sich. Zuerst dachte Kylar, sie träume, aber dann öffnete sie die Augen und stand aus dem Bett auf.
    Sie entzündete keine Kerzen. Für einen kurzen Moment schaute sie aus dem schmalen Fenster, wo Kylar unsichtbar stand. Sie wirkte verängstigt, so sehr, dass er seine Unsichtbarkeit noch einmal überprüfte. Aber ihr Blick ruhte nicht auf ihm. Er schaute hinter sich, doch da war niemand auf der Straße. Goldlöckchens Mutter schauderte und kniete sich vor das Bett.
    Sie betet! Heilige Scheiße.

Weitere Kostenlose Bücher