Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
gemeinsam gegen den Rest der Welt. Wie Romeo und Julia. Wenigstens glaubte sie das. Denn sie war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, hinter dem Fahrradschuppen mit ihm rumzuknutschen, um in Englisch noch groß aufzupassen. Für Romeo und Julia war’s natürlich insgesamt nicht so doll gelaufen. Warum also hätte es bei Chris und Keisha anders sein sollen? Sie wäre doch bekloppt gewesen, je was anderes zu erwarten.
Nach der Clubnacht am Freitag konnte Keisha es nicht fassen, dass er ohne sie gegangen war. Der Scheißkerl. Was für ein Arschloch er war, aber ehrlich. Als sie von der Toilette wiederkam, war er weg. Sie nahm den müffelnden Nachtbus nach Hause, nur um ihn dort vorzufinden, und zwar schon im Bett.
»Du hast mich sitzenlassen!«
Er murmelte etwas unter der Decke hervor, ein Hügel in der Dunkelheit. »Mir war schlecht.«
»Wie bist du –? Du hast ein Taxi genommen, stimmt’s?« Auf andere Weise hätte er unmöglich so schnell wieder zu Hause sein können. Sie konnte es nicht glauben: zwanzig Pfund zum Fenster rausgeworfen!
»Hör auf.«
»Na gut, was soll’s.« Sie ging pinkeln, befreite sich aus den Schuhen des Todes und sah, dass der Badezimmerfußboden feucht war, von der Dusche. Noch seltsamer war, dass im Flur ein zugeknoteter Plastikbeutel stand, der Kleidungsstücke zu enthalten schien. Vielleicht hatte er sich übergeben. Oder sich eingepisst. Fast hätte sie gelacht, aber sie bremste sich. Wenn sie über ihn lachte, rastete er aus.
Keisha warf einen Blick auf die alte rosa Badematte – natürlich klatschnass. Dieser Blödmann. Und da war irgendwas drauf. Sie zog sich den Slip hoch und beugte sich drüber. Es sah aus, als hätte er Red Bull mit Jägermeister ausgekotzt, wie es ihr einige Monate zuvor ergangen war (ganz böse Erinnerung). Sie feuchtete etwas Klopapier an und tupfte damit an dem Fleck herum. Vorne im Flur standen seine neuen Adidas Classics auf einer Lage Zeitungspapier, rote Flecken rings um die Sohle. Sie ging ins Schlafzimmer. »Was ist denn mit deinen Schuhen passiert?«
»Bin in einen Döner gelatscht. Jetzt lass mich in Ruhe.« Er war unter der Decke begraben.
Erschöpft und mit den Nerven ziemlich am Ende, legte sie sich so ins Bett, dass sie ihn nicht berührte, und schlief ein.
Chris war für sie immer der Einzige gewesen. Damals, 1997, als sie ihn in der Schule kennenlernte, wusste Keisha mit Sicherheit, dass sie nie im Leben einen anderen Jungen auch nur ansehen würde, nicht in einer Million Jahre. Und dass nichts sie jemals würde entzweien können. Und so war es ja beinahe auch gewesen – natürlich nur bis zu dem Tag, an dem er das mit Ruby gemacht hatte.
Hegarty
Als Hegarty in den Vernehmungsraum zurückkam, sah Stockbridge schon nicht mehr so cool aus, eher zerknittert und müde. Auf dem Tisch lag der Rest eines matschigen Schinken-Sandwiches, und daneben stand ein fast leerer Becher, der den miesesten Kaffee enthalten hatte, der im ganzen Revier aufzutreiben war – und der war wirklich ziemlich mies. »Was jetzt?«
Hegarty warf einige Fotos auf den Tisch. »Schauen Sie sich das an.«
Stockbridges Gesicht regte sich nur minimal. Eiskalter Scheißkerl. »Wieso zeigen Sie mir das?«
»Damit Sie mal sehen, was Sie angerichtet haben.« Vielleicht konnte man ihn damit aus der Reserve locken.
Er runzelte die Stirn. »Ich bin verwirrt. Ist das dieser Johnson?«
»Warum sagen Sie es uns nicht?«
Er wandte ungehalten den Blick ab. »Wenn ich es wüsste, würde ich nicht fragen.« Dann schob er die Bilder von sich fort – ein zusammengekrümmter Körper, ein auf dem Boden liegender Fuß in einem blutbeschmierten Büro. »Und Sie glauben, dass ich das war, weil – weil ich ihn geschlagen habe. Aber ich habe Ihnen doch schon gesagt: Es war nur ein ganz leichter Schlag, Herrgott noch mal. Er hatte mich ausgelacht.« Stockbridge fuhr sich mit den Händen durchs Haar. »Er hat was gesagt wie: ›Ihre Karte funktioniert nicht, Mister Banker. Jetzt sind Sie genauso ein armer Wicht wie wir anderen auch.‹ Und ich war – ich war neben der Spur. Das wissen Sie ja. Also habe ich ihm eine geknallt – und beim ersten Mal habe ich ihn gar nicht getroffen. Dann hat seine Nase geblutet. Aber er hat weitergelacht. Ich sage Ihnen, es ging ihm gut. Ich schwöre Ihnen, er war okay.«
Anthony Johnson hatte sich tatsächlich eine leichte Prellung an der Nase zugezogen. Doch dabei war es dann ja wirklich nicht geblieben. »Und dann?«
»Dann bin ich nach Hause.
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