Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
hatte keine derben Spitznamen für seine Untergebenen und pflegte keine einzelgängerischen Arbeitsmethoden. Er war auf seinen gehobenen Posten gelangt, indem er sich stets an die Regeln hielt, Druck von oben wegsteckte und zu jedermann freundlich war. Jedermann – von Missetätern einmal abgesehen. Und nichts hasste er mehr als Journalisten. »Diesen verdammten Reportern ist offenbar nicht klar, dass jemand freigesprochen werden könnte, wenn sie solche Schlagzeilen bringen.«
»Wird das Auswirkungen auf den Fall haben, Sir?«
»Keine Sorge, mein Junge, Sie haben bei dieser Festnahme erstklassige Arbeit geleistet. Sehr gut für unsere PR, wie man mir sagte. Wenn ein Weißer einen Schwarzen umbringt, ist die Lage hochexplosiv. Ihr Handeln hat das ganz schnell wieder bereinigt. Jetzt müssen wir nur noch ausreichend Beweismaterial zusammentragen, und dann wandert er ins Kittchen, wo er hingehört. Sehr gut gemacht.«
Hegarty nickte, aber irgendwie war es nicht so befriedigend, wie es hätte sein sollen. Was war denn los mit ihm? Er hatte sich doch so danach gesehnt: nach Erfolg, einer Beförderung. »Sir … Wissen Sie, dass Stockbridges Verlobte bei der Verhandlung überfallen wurde?«
Der DI seufzte. »Noch eine üble Sache. Da kann man mal sehen, wie schnell bei so einem Fall Gefühle hochkochen.«
»Ja. Es ist bloß …« Er wusste nicht, wie er erklären sollte, was ihn beschäftigte. Er war sich selbst nicht einmal sicher, was es war. Wie etwas, das man kurz im Augenwinkel erblickt hatte und das dann gleich wieder verschwunden war. »Wir haben den anderen Zeugen noch nicht gefunden. Diesen anderen Weißen. Ich habe jetzt aber immerhin ein Handyfoto von ihm.«
Bill Barton zuckte zusammen. »Handyfotos – das ist eine haarige Sache, Matthew. Seien Sie vorsichtig mit so was. Früher war alles einfacher, das sage ich Ihnen. Also, wie weit sind Sie denn mit den Ermittlungen?«
»Ich habe mit Stockbridges Bank gesprochen – die waren sehr hilfsbereit, das muss ich schon sagen. Haben nicht mal nach einer richterlichen Verfügung gefragt. Haben einfach alles rausgerückt, seine Personalakte, komplett alles.« Diese enorme Hilfsbereitschaft hatte ihm zu denken gegeben. Eine Frau namens Kerry Hall hatte ihm ein ganzes Paket voller Papiere über Dan Stockbridge zugeschickt: seine medizinischen Unterlagen, seine Disziplinarakte, seine Leistungsbewertungen – wirklich alles. Eine interessante Lektüre.
Der Chef deutete mit dem Zeigefinger auf die Zeitung. »Ist da denn was dran – an dieser Geschichte über das Mobbing schwarzer Mitarbeiter?«
»Sieht so aus, ja. Sie mussten im Laufe der Jahre einigen Leuten Abfindungen zahlen. So sind diese City-Boys nun mal, Sir. Sie wissen ja, wie das ist.«
»Ja. Aber ich frage mich, woher die Zeitungen davon wissen.«
Es hätte Hegarty nicht gewundert, wenn sie aus derselben Quelle davon erfahren hätten wie er selbst: von Haussmann’s. Es war merkwürdig, dass man mit einem eigenen Mitarbeiter so verfuhr. »Sir, ich würde gerne noch weiter nach diesem anderen Zeugen suchen, wenn ich darf. Ich habe da möglicherweise eine Spur.«
»Hm. Aber schonen Sie unsere Mittel, mein Junge. Wir müssen jetzt alle auf Sparsamkeit bedacht sein.« DI Barton tippte mit dem Finger auf die Zeitung. »Das Wichtigste ist, diesen Kerl hinter Gitter zu bringen, und zwar dauerhaft.«
Keisha
Ja, da hatte sie sich was Seltsames ausgesucht. Es war so ziemlich der letzte Ort, von dem sie gedacht hätte, dass sie an diesem Montag dort landen würde. Als ihr klar geworden war, dass Chris sie eingeschlossen hatte und sie offenbar nicht mehr aus den Augen lassen wollte, war Keisha in Panik geraten. Ihr Hirn fing an zu rotieren wie eine Münze in der Waschmaschine. Ach du Scheiße. Sie musste da raus. Zum Glück hatten diese ehemaligen Sozialwohnungen alle eine Feuertreppe. Sie zwängte sich durch das enge Fenster im Schlafzimmer hinaus und lief die eiserne Treppe hinab. Unten auf der Straße angelangt rannte sie los, so schnell sie konnte, die Sohlen ihrer Sneakers hämmerten übers Pflaster, und die kleine Tasche hüpfte auf ihrem Rücken auf und ab. Aber wohin? Zu ihrer Mutter konnte sie nicht; sie würde Ruby nie wiederbekommen, wenn jemand erfuhr, was Chris getan hatte. Was er schon wieder getan hatte. Er hatte sich kein bisschen geändert, der Scheißkerl.
Weil sie vor allem irgendwohin wollte, wo er sie nicht vermuten würde, war sie letztlich in der Stadtteilbücherei von Swiss Cottage
Weitere Kostenlose Bücher