Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
Bibliothekarin – Julie stand auf ihrem Namensschild. »Wir schließen jetzt.«
»Tatsächlich?« Sie tat überrascht. »Ich … war ganz in meine Studien vertieft.« Das Buch, das vor ihr lag, war Jordans Autobiographie.
Julie lachte wieder. »Sie heißen Shondra, nicht wahr? Das ist der Name, den Sie in die Computerliste eingetragen haben.«
Keisha zögerte. »Ja …«
»Also, wie auch immer Sie heißen – mein Eindruck ist der: Sie haben im Moment keinen Ort, wo Sie hinkönnen, denn bei Ihnen zu Hause ist der, der das mit Ihrem Gesicht gemacht hat.«
Ehe sie sich bremsen konnte, riss sich Keisha unwillkürlich eine Hand vors Auge. »Ich bin okay.«
»Das ist schön. Darf ich Ihnen wenigstens eine Tasse Tee anbieten? Da sparen Sie zwei Pfund – oder was auch immer die einem in dieser Cafeteria dafür abknöpfen.«
So war es schon besser. Sie sprachen offenbar dieselbe Sprache.
Julie schloss neben dem Toilettenbereich eine kleine Tür auf, und sie betraten eine winzige Teeküche, in der es nach überlagerten Lebensmitteln roch. »Schauen Sie sich das an, Shondra: so ein Glanz hinter den Kulissen. Kaum zu glauben, nicht wahr?«
Keisha lächelte nervös. Um den dünnen Tee trinken zu können, musste sie die Kapuze abnehmen, aber da Julie ihr Gesicht schon gesehen hatte, machte das nichts. »Danke.« Sie hatte nichts mehr getrunken seit dem Glas Wasser, das sie von der blöden Kuh in der Cafeteria erbettelt hatte.
Julie schlug die Beine übereinander und nippte an ihrem Tee, als wäre sie die Queen. »Abscheulich«, sagte sie. »Also, Shondra, wissen Sie, was das Besondere daran ist, wenn man als Bibliothekarin arbeitet?«
»Äh … nö.«
»Man steht im Dienste der Allgemeinheit. Wie ein Arzt. Oder ein Polizist.«
Keisha erstarrte.
»Und deshalb, Shondra , sind wir verpflichtet, den Leuten, die hierherkommen, ein bisschen zu helfen. Nicht nur dabei, den neuen Jackie Collins zu finden – sondern manchmal auch noch bei anderen Dingen.« Sie trank noch einen kleinen Schluck von dem scheußlichen Tee. »Sie würden sich wundern, wer alles zu uns kommt. Drogenabhängige, misshandelte Frauen, Obdachlose …«
»Ich bin nicht obdachlos«, sagte Keisha und stellte verärgert ihren Becher ab. »Ich habe ein Zuhause.«
»Aber Sie können da momentan nicht hin, nicht wahr? Weil … Darf ich?« Behutsam berührte sie Keishas Stirn. Ihre Fingernägel waren knallig rosarot lackiert. »Das muss gesäubert werden. Ich kann so was, ich bin hier die Erste-Hilfe-Beauftragte. Das war eine gute Möglichkeit, mal eine Woche von der Arbeit wegzukommen.«
Keisha konnte es nicht ausstehen, von Fremden angefasst zu werden, aber was hätte sie sagen sollen? Sie hatte kaum den Mund zu einer Antwort aufgemacht, da hatte Julie auch schon die weiße Kiste mit dem Kreuz drauf hervorgeholt und tupfte mit einem Zeug, das höllisch brannte, an ihren Verletzungen herum. »Au!«
»Kommen Sie, Sie haben doch bestimmt schon viel schlimmere Schmerzen ausgestanden. Das ist alles nichts im Vergleich zum Kinderkriegen!«
»Ich weiß«, sagte Keisha und verblüffte sich damit selbst. »Ich hab ein Kind.«
Julies kupferfarbene Augenbrauen schossen in die Höhe. »Und wo ist es jetzt?«
»Woanders«, erwiderte sie schnell. Sie wollte nicht, dass die Frau glaubte, sie hätte ihr Kind bei einem gewalttätigen Mann zurückgelassen. Obwohl sie genau das früher natürlich durchaus getan hatte, nicht wahr? Aber das war jetzt nicht der Punkt.
Julie schnitt ein Stück Mullbinde ab. »Sie müssen mir das nicht sagen. Hören Sie, es gibt da ein Hostel, wo ich manchmal Leute hinschicke. Das ist aber nicht kostenlos.«
»Ich habe Geld.« Sie war so froh, dass sie die fünf Zehner aus ihrem Lohn noch hatte. Eine Fluchtmöglichkeit. Würde. Das war jetzt alles.
Julie nahm einen Stadtplan und machte einen kleinen Kringel auf der Seite, auf der sich das Hostel befand. »Sie gehen dahin. Versprochen?«
»Eventuell.« Keisha sagte das so, als würden ihr Millionen Möglichkeiten offenstehen. Den Kopf nicht hängen lassen nannte man das. Sie stand auf. Sie war ganz schlecht darin, solche Sachen zu sagen. »Äh … Ich weiß, Sie müssen das alles nicht tun, also …«
Julie lachte. »Das gehört alles mit zu meinem Job. Manchmal tu ich so, als wär ich bei Grey’s Anatomy . Bis mir dann wieder klar wird, dass ich nur eine einfache Bibliothekarin bin. Passen Sie gut auf sich auf.«
Keisha zögerte. »Ihre Stiefel sind cool«, sagte sie. »Sind das
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