Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
zuvor hatte sie so gut über die Nachrichten Bescheid gewusst. Der Name der Bank wurde ständig erwähnt: Haussmann’s – klang irgendwie deutsch. Da arbeitete der Freund der Blonden. Oder da hatte er jedenfalls bis vor Kurzem gearbeitet. Und die Bank war dann doch nicht pleitegegangen. Die Regierung hatte sie übernommen, nachdem die Besitzer vorher zehn Milliarden Pfund Verlust gemacht hatten.
Keisha blieb bei dieser Zahl hängen und legte die Zeitung auf den Tisch, um sie richtig anzusehen. Eine alte Schachtel warf ihr einen bösen Blick zu, weil sie dabei minimal geraschelt hatte. War das etwa gerecht ? Wenn man reich war und zehn Milliarden verlor, und zwar durch zwielichtige Machenschaften, wie die Zeitung offenbar zum Ausdruck bringen wollte, auch wenn Keisha das nicht so richtig verstand, dann sagte die Regierung einfach: Oh, keine Sorge, wir kommen dafür auf. Wohingegen wenn sie einen Zehner verlor, weil er ihr zum Beispiel aus dem Geldbeutel rutschte, während sie im Bus einen Fahrschein löste, und wenn das ihr ganzes Geld war, das sie in dieser Woche bei Tesco ausgeben konnte, dann hatte sie halt einfach Pech gehabt?
Sie sah Julie ein paarmal in der Bücherei, verbarg ihr Gesicht aber unter der Kapuze. Sie war durchaus dankbar und so, aber manchmal fühlte man sich einfach nur noch mieser als ohnehin schon, wenn Leute nett zu einem waren. Sie wusste nicht, warum das so war; es war einfach so.
Nachts lag Keisha wach, denn es war ein ständiges Kommen und Gehen – junge Asiatinnen, die sich um fünf Uhr früh die Haare föhnten, schreiende Babys, die ganze Nacht immer wieder brüllende Frauen auf dem Korridor. Auch ihr Hirn gab keine Ruhe vor lauter Sorgen. Sie hätte im Pflegeheim anrufen und erklären sollen, warum sie nicht zum Dienst erschienen war. Sie hätte Sandra anrufen und ihr sagen sollen, dass sie Chris verlassen hatte. Sie hätte das auch ihrer Mutter sagen sollen, hätte nach der Kleinen fragen sollen. Aber sie tat nichts von alledem.
Sie dachte an Ruby und daran, wie sie bei ihrer letzten Begegnung ausgesehen hatte. Und manchmal, obwohl sie sich dagegen wehrte, dachte sie daran, was Chris dem Kind angetan hatte und wie sie nur dagestanden und zugesehen hatte, ohne einzugreifen, bis es dann zu spät war. Wenn sie davon träumte, ballte sie im Schlaf die Fäuste. Sie dachte auch immer wieder an die Blonde. Was wusste sie? Sie musste irgendwas wissen, sonst hätte Chris im Gericht nicht die beiden Mädels auf sie angesetzt. Wenn sie rausfinden könnte, was die Blonde wusste – würde ihn das dann von ihr fernhalten? Weiter aber kam sie nicht, von Angst erfüllt, wie sie war.
Nach drei Tagen war sie bei ihrem letzten Zehner angelangt und hatte ihren Vorrat an billigen polnischen Instantnudeln aufgebraucht. Es war Zeit, wieder zu Hause angekrochen zu kommen.
Charlotte
Charlotte saß am Küchentisch und starrte den Riesenhaufen Post an. Sooft sie auch die Augen schloss, er verschwand einfach nicht. Zum ersten Mal war niemand da, der ihr dabei geholfen hätte, und wenn sie die unzähligen Fensterbriefumschläge nicht aufschlitzte, würde kein Geld von einem virtuellen Haufen auf den anderen wandern, und nur allzu bald würde das Licht ausgehen, und dann würde sie im Dunkeln sitzen und könnte sich nicht einmal mehr mit endlosen Wiederholungen von Friends betäuben.
Drei Stapel, beschloss sie. Erstens der Hochzeitskram: Warenrechnungen und Lieferscheine; Geschenke, die von den Nachzüglern und Ahnungslosen immer noch eintrafen; Schreiben, die Bedauern zum Ausdruck brachten – das kam alles erst mal beiseite; es hatte jetzt keinen Sinn, sich damit auseinanderzusetzen. Zweitens der ganze Schrott: Reklamebroschüren, Kreditkartenangebote, Lieferdienst-Speisekarten. Und drittens schließlich ihre privaten Rechnungen. Einige davon trugen rote Vermerke auf dem Umschlag, und wenn ihr das noch etwas ausgemacht hätte, hätte sie sich vor Mike und Susie von unten dafür geschämt. Dan hatte immer all diese Rechnungen bezahlt, deswegen war sie über die Einzelheiten nicht so genau im Bilde, aber eigentlich konnten die nicht schon so bald so überfällig sein. Wurden die nicht alle sowieso von seinem Konto abgebucht?
Sie stand auf und schlurfte in Pantoffeln in das kleine Gästezimmer. Dan arbeitete dort manchmal am Wochenende. Sie durchwühlte die Papiere auf dem Schreibtisch – jede Menge Ausdrucke, wild übereinandergehäuft, Zahlenkolonnen ohne Ende, manche rot markiert oder mit einem
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