Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
und ruckte dann mit dem Kinn, was ihren hohen Pferdeschwanz hochfliegen ließ. »Pack an den Rädern an.«
Keisha griff nach den durchdrehenden Hinterrädern, und keuchend schafften sie es die Treppe hinab, während der kleine Junge die ganze Zeit kurz davor war hinzufallen und sich den Kopf aufzuschlagen.
»Hast du Chris gesehen?«, fragte Keisha ganz nebenbei, als sie den Wagen abstellte.
Jacinta zog eine Schachtel Silk Cut aus ihrer abgeschnittenen rosa Hose im Military-Look. »Er hat dich rausgeschmissen, nicht wahr?«
Keisha zuckte mit den Achseln. »Wir hatten Krach.«
»Keith und ich, wir zanken uns abends auch manchmal wie Hund und Katze. Aber so was hat er noch nie mit mir gemacht.« Sie wies mit einer Kopfbewegung auf Keishas ramponiertes Gesicht. »Hör mal, Schätzchen: Den Radau haben wir alle gehört. Den hat das ganze Haus mitgekriegt. Ich war schon drauf und dran, die Bullen zu rufen. Am nächsten Tag ist Keith hin und hat ihn gefragt: ›Wie geht’s denn deiner Freundin?‹« Sie steckte sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. »Und er nur so: ›Ich hab keine Freundin mehr.‹ Und dann ist er Keith so auf die Pelle gerückt, dass der’s mit der Angst gekriegt hat, und meinte so: ›Wenn sie hier auftaucht, sagt mir Bescheid. Sonst seid ihr als Nächste dran.‹« Sie nahm wieder einen tiefen Zug. »Wenn ich du wär’, Schätzchen, würd’ ich mich ganz schnell vom Acker machen. Der Typ ist echt hammerhart drauf.«
Keisha drehte sich der Magen um. War sie denn total beknackt? Er hatte ihren Kopf an den Tisch geknallt, und sie kam einfach so wieder, konnte offenbar gar nicht genug davon kriegen, glaubte wohl, sie könnten jetzt einfach wieder einen auf glückliche Familie machen – oder was auch immer sie bis dahin gewesen waren.
Sie wandte sich zum Gehen, aber Jacinta hielt sie zurück. »Hey!«, sagte sie. »Wo ist denn eigentlich deine Kleine? Ist sie in Sicherheit?« Alle im Haus wussten, was mit Ruby geschehen war.
Ruby . Mit einem Schlag fühlte sich Keisha sogar noch mieser. Sie hatte ein Gefühl, als würde jemand auf ihrer Brust sitzen und ihr die Luft abpressen, und einen Moment rang sie um Atem. Sie hatte gar nicht daran gedacht, denn er hatte sich ja nie für das Kind interessiert. Aber wenn er Keisha eins auswischen wollte … Was, wenn er die ganze Zeit, während sie sich in dem verdammten Hostel versteckt hatte … Ach du Scheiße.
Sie lief zur Bushaltestelle, kramte den Geldbeutel der Blonden hervor und zog die Oyster Card heraus. Die hatte doch bestimmt nichts dagegen, wenn sie damit ein bisschen Bus fuhr. Wenn’s um so eine ultrawichtige Sache ging.
Charlotte
Sie war ihrer Mutter und Phil dankbar, dass sie gekommen waren, das musste sie zugeben, und sei es auch nur, weil sie ihr genug Lebensmittel dagelassen hatten, um fast die ganze erste Woche damit auszukommen. Doch irgendwann hatte sie sogar die ekligen Bran Flakes aufgegessen und alles, was sich noch im Tiefkühlfach fand, und ihren Tee trank sie schon seit Tagen schwarz. Was bestens zu ihrer Stimmung passte.
Am Freitag – der eigentlich der Tag vor ihrer Hochzeit hätte sein sollen – war Charlotte schließlich kurz davor, wahnsinnig zu werden. Sie konnte nicht mehr schlafen, konnte sich nicht mehr auf das blöde Gequatsche aus dem Fernseher konzentrieren und hatte immer noch nicht gewagt, ans Telefon zu gehen oder ins Internet zu schauen. Dieses Wegducken vor der Woge des Mitleids, dem Tsunami des Bedauerns bestimmte ihr tägliches Leben, und das war ihr auch klar. Ihre Gedanken glitten wie ein mächtiges Pendel hin und her – essen, fernsehen, schlafen.
Inzwischen aber war sie schon ganz kirre vor Einsamkeit; sie stand auf und setzte sich wieder; sie wartete darauf, dass der Wasserkessel kochte, bis ihr klar wurde, dass sie da bereits seit Ewigkeiten stand und das Wasser schon wieder abgekühlt war. Zu allem Überfluss wusste sie ganz genau, dass sie hunderte Dinge zu erledigen hatte. Viermal hatte sie schon angefangen, einen Brief an Dans Eltern zu schreiben, um sie zu bitten, ihr bei der Suche nach einem Anwalt zu helfen, und jedes Mal hatte sie es wieder aufgegeben. Sie gingen auch nicht ans Telefon.
Charlotte nahm ihren Laptop zur Hand. Das schlanke, silberfarbene Gerät war leicht wie eine Pralinenschachtel. Weil sie sich nach menschlichem Kontakt sehnte, klickte sie auf Facebook , und die blau-weiße Seite erschien. Fotos, Namen – Alison guckt gerade Britain’s Got Talent , voll
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