Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um sich damit auseinanderzusetzen. »Sarah könnte herkommen, wenn du meinst, dass ich jemanden brauche.«
»Hm. Ja, vielleicht. Wo ist sie überhaupt?« Ihre Mutter wandte sich an Phil, der zwar Sarahs Vater war, ihr aber in keiner Hinsicht ähnelte, von einer gewissen Sturheit mal abgesehen.
»Irgendwo im Ausland. Bangladesch? Sie wollte zur Hochzeit wieder zurück sein, nicht wahr?«
»Ja, und sie hat sich nicht dazu bewegen lassen, früher wiederzukommen. Na ja, wenn du meinst, dass sie dir helfen könnte …« Gails Tonfall brachte zum Ausdruck, dass sie starke Zweifel hegte, dass Sarah irgendjemandem eine Hilfe sein könnte.
Charlotte sagte: »Wenn ihr bald aufbrecht, kommt ihr noch gut durch. Ich will natürlich nicht, dass ihr auf der M6 im Stau steht.« Das war genau das richtige Stichwort – Hauptverkehrszeiten zu umgehen hatte für Phil geradezu religiöse Bedeutung, und binnen einer Stunde reisten die beiden ab und ließen sie in der fragwürdigen Friedlichkeit der leeren Wohnung zurück. Sobald die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, machte sich Charlotte über den Altpapierbehälter her und zog zerknitterte Zeitungen hervor, bis sie den gesuchten Artikel fand. Dann hockte sie sich hin und las den Text über Dan und seine Arbeit und die Vorgänge in seiner Firma. Institutioneller Rassismus. Psychologische Folter. Von City-Boys schikaniert . Und in den nächsten Stunden war das Ticken der Uhr das Einzige, was sie hörte.
Keisha
Das Hostel war voll der bizarre Laden. So was hatte sie noch nicht gesehen. Der einen Hälfte der Gäste ging es so wie ihr – sie waren, wenn man es nett umschreiben wollte, wohnungssituationsmäßig in einem Zwischenstadium . Exhäftlinge und alleinerziehende Mütter, die nicht wussten, wohin. Die Gesichtshaut der meisten war derart vom Rauchen ruiniert, dass sie maskenhaft wirkte. Und Keisha war wirklich nicht die Einzige mit Blessuren im Gesicht.
Die andere Hälfte der Gäste waren ganz normale Leute, die glaubten, in einem ganz normalen Hostel zu sein, in dem bloß einfach keine Männer zugelassen waren. Junge Asiatinnen, die alles mit ihren Handys knipsten, und einmal auch ein Trupp Frauen mittleren Alters aus Bradford, die nur in London waren, um sich das Musical Billy Elliot anzusehen. Keisha hörte sie meist schon ein ganzes Stück entfernt auf dem Korridor kommen, wie sie über all die Dinge moserten, die ihnen nicht gefielen. »Und beim Frühstück ist immer schon das ganze Gebäck weg. In der Werbung stand eindeutig was von Gebäck. Und dann dieser Lärm, Margaret!«
»Ich weiß, Sue. Wir sollten uns beschweren.«
»Ja, das sollten wir. Wir sollten uns wirklich beschweren.«
Das Gebäck war weg, weil die andere Hälfte, die Frauen im Zwischenstadium, früh um sechs aufstand und es einsteckte – es war schließlich Gratis-Verpflegung. Eines Morgens saß Keisha im Frühstücksraum und vertrieb sich die Zeit, indem sie die Metro las, als eine Frau mit verknittertem Gesicht ihr zunickte.
»Essen Sie das noch?« Auf Keishas Teller lag ein kleines, klebriges Plunderstück, das sie eigentlich in eine Serviette einschlagen und fürs Mittagessen aufheben wollte, aber dennoch sagte sie: »Nö.« In Sekundenschnelle hatte das mittlere Kind der Frau, ein kleiner Junge, das Teilchen in sich hineingestopft. Sie hatte noch zwei weitere Kinder, einen kleinen Jungen, der auf jämmerliche Weise mit einem Handy herumspielte, und ein Mädchen, ungefähr in Rubys Alter, das sich auf dem Schoß der Mutter wand und unbedingt hinunterwollte. »Lass mich los, Mum!«
Ruby wäre nie so laut und so frech gewesen. Die Frau hatte strähniges, blond gefärbtes Haar. Als sie Keishas Blick bemerkte, funkelte sie sie an. »Ich hab auch eine Tochter«, erklärte Keisha. »Sie ist fünf.«
Die Frau kniff ihre dick geschminkten Augen zusammen. »Wie alt sind Sie denn?«
»Fünfundzwanzig.«
»Ich auch. Danke für das Teilchen. Tyler, Kian, Jade – jetzt macht mal dalli, verdammt noch mal!«
Fünfundzwanzig – und das älteste Kind war mindestens zehn, vielleicht sogar elf Jahre alt. Mein Gott, es gab immer noch jemand, der mieser dran war als man selbst.
Um zwölf Uhr ging sie hinaus, bevor Brenda, die irische Putzfrau, kam, die sie sonst mit ihrem Raumspray wie Wespen vertrieben hätte. Dann verbrachte sie den ganzen Tag in der Bücherei, las ein Buch nach dem anderen und auch die ganzen Zeitungen und Zeitschriften, die da auslagen. Nie
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